Dass
Österreich in musikalischer Hinsicht einige Perlen aufzuweisen
hat dürfte dem Musikkonsumenten zwar klar sein, allerdings
gibt es hierbei auch Bands, die meines Erachtens mehr Zuspruch
verdient hätten und zu denen gehört unabstreitbar
das Kollektiv ANGIZIA. Um nähere Einblicke auf das
künstlerische Schaffen der Truppe zu erhalten baten Mephisto
und Dunja Protagonist Michael Haas um Rede und Antwort. Und
weil gut Ding Weile braucht, zogen etliche Monate ins Land,
bevor dieser unsere Fragen ausführlichst (!) beantwortete...
Nocturnal
Hall: 6 Jahre sind nun vergangen, seit ihr euer Debütalbum
Die Kemenaten scharlachroter Lichter veröffentlicht
habt – seither ist viel Wasser die Donau hinuntergeflossen
und seither hat sich bei ANGIZIA sowohl von der Besetzung her
als auch musikalisch einiges getan – wie siehst du Die
Kemenaten... heute?
Michael
Haas: Die Kemenaten scharlachroter Lichter
ist ein ganz eigenartiges Stück Musik - ein Album, das
ich immer noch hochrangig schätze, eines das gleichermaßen
provoziert und ANGIZIA in eine eigene Schublade
gesperrt hat und eines, das wahrscheinlich auch ANGIZIA
selbst heute nicht mehr auf diese Art und Weise reproduzieren
könnte. All die Faktoren, die dieses Album ermöglicht
haben und schlussendlich zum richtigen Zeitpunkt Harmonie fanden,
sind sehr originell und schenkten uns ein fanatisches Publikum
auf der einen und perplexe Kritiker auf der anderen Seite der
Musikströmung. Die Kemenaten scharlachroter
Lichter war ein bewusst barock gehaltenes Musiktheaterstück
mit sowohl literarisch und sprachlich als auch musikalisch komplexen
und schwülstigen Elementen. Wir hatten dabei wirklich in
keinem Moment daran gedacht, ANGIZIA massentauglich
oder die Pianoarbeit selbst konsumfreundlich zu machen. Das
an sich charakteristische Konglomerat des Stücks -bestehend
aus vielschichtigen Stimmen, klassischen Instrumenten, Rock-,
Metal- und Barockeinflüssen - hat ANGIZIA
aber schon damals in eine ureigene Musikschicht getragen und
somit von Anfang verhindert, sowohl Die Kemenaten
scharlachroter Lichter als auch ANGIZIA
mit „Gewöhnlichem“, „Standardisiertem“
und „Konventionellem“ in Verbindung zu bringen.
Dieses Album hatte sehr viele Ecken und Kanten, erreichte einige
Glasvitrinen und wurde gleichermaßen von Hörern verpönt,
die mit dem Vielerlei an Information und der befremdenden Art
und Weise, komplexe klassische Strukturen mit extravertierten
Gesängen und bis dato ungewöhnlichen musikalischen
Elementen zu kombinieren, nicht umgehen konnten (und wollten).
Viele ANGIZIA-Fans lieben das Stück ob
seiner „individuellen Synthese“ aus verschiedensten
musikalischen Genres. Heute ist das Album faktisch ausverkauft,
weil jenes Kontingent, das Napalm/Records damals vor Augen hatte,
erschöpft ist und die CD nicht wieder aufgelegt wird. Auch
wenn sich ANGIZIA heute schlichtweg „anders“
präsentiert als damals (1997) – Die Kemenaten
scharlachroter Lichter (1997) war ein apartes
und unvergleichliches Stück „Musik“.
NH:
Wie hat sich die Person Michael Haas mit den Jahren verändert?
Gehst du heute anders daran, wenn es darum geht, eine neue Platte
zu machen?
MH: Nun,
ich bin und bleibe Idealist, fröne avantgardistischer Musik
und liebe den künstlerischen Wahnwitz. Mein Perfektionismus
erschwert mir mittlerweile die konkrete Arbeit an einem kurzfristig
voraus zu planenden Album und macht mich zu einem künstlerisch
progressiv denkenden Menschen und zeitlosen Konzeptionisten.
Das „Genre“, in dem ANGIZIA bislang
präsent war, enttäuscht und ermüdet mich immer
mehr, ja gibt mir kaum mehr Anlass, darin existieren zu wollen.
ANGIZIA selbst mutierte über die vielen
Jahre hinweg zum bockigen Einsiedler einer mittlerweile dunkelgrauen
Musiklandschaft und existiert heute quasi für den Wahnwitz
allein. Um dir eine seriöse Antwort auf diese Frage zu
liefern, sei dir gesagt: Ich sehe mich nicht in der Verpflichtung,
Musik für andere oder ganz bestimmte Ohren zu betreiben,
meine musikalischen Marotten in eine globale Welt zu tragen
oder diese bzw. ANGIZIA selbst immer wieder
transparent genug zu machen, nur um sich damit populistisch
oder opportunistisch zu assimilieren.
Als
Künstler bleibe ich mir treu: „Ein Schwimmer gegen
den Strom“ – „...das Schaukelkind im Keller
der Musikwirtschaft“ und der „bunte Vogel in einem
verseuchten Dunstkreis.“
Heute
nähere ich mich neuen Projekten grundsätzlich gelassener
als früher - das entstandene musikalische „Profitum“
auf Grund der vielen professionellern Musiker, die absolute
Perfektion beim Umsetzen von Konzepten, Stücken und einzelnen
Ideen auf Grund der gediegenen Harmonie innerhalb des Projektkerns
und die innere Ruhe aus den vielen gewonnenen Erfahrungen heraus
lassen mich vor jedem Projekt zuversichtlich sein, ein weiteres
(und für mich besonderes), ja schlussendlich zufriedenstellendes
Gesamtkunstwerk zu kreieren. Darüber hinaus liebe ich die
emsige, so sehr ausgedehnte, ja schlichtweg langfristige Arbeit
an EINEM einzigen Konzept und EINEM tiefsinnigen Stück,
die freilich wiederum gewährleistet, dass das künstlerische
Resultat schlussendlich auch entspricht. Dieses entsteht - nach
wie vor - eher wirtschaftlich kompromisslos, ohne Ehrfurcht
vor roten oder schwarzen Zahlen und sehr wohl mit Bedacht auf
einen generell „schlampig und oberflächlich gewordenen
musikalischen Zeitgeist des Undergrounds“. ANGIZIA
existiert quasi für sich allein, und das so lange ich Lust,
Zeit und Geld dafür haben will.
Was
ANGIZIA-Werke (nach wie vor) interessant und
ausgeklügelt macht, ist die Tatsache, dass dem Projekt
schlichtweg Künstler beiwohnen, die mit ihrer enormen Professionalität
und einer andererseits bewundernswerten idealistischen Einstellung
wesentlich dazu beitragen, dass sich „dieses trotzige
und so sehr unkonventionelle Musikgeschöpf“ nicht
für immer in eine dunkle Höhle zurückzieht. Deswegen
denke ich, dass ich ANGIZIA ohne die künstlerisch
wertvolle Interaktion und so verlässliche Zusammenarbeit
mit Künstlern wie Irene Denner, Jochen Stock oder Emmerich
Haimer NICHT pflichtbewusst am Leben erhalten würde.
NH:
In eurem neuem Werk geht es ja quasi um Spielleute, die ja heute
wie damals (zeitlich bezogen auf die Zeit in der 39 Jahre
für den Leierkastenmann spielt) ein gewisses Außenseiterdasein
fristen – klar gibt es „Künstler“ die
von der Öffentlichkeit respektiert werden und die brauchen
sich um ihren Lohn auch keine Sorgen machen...ist es nicht manchmal
frustrierend zuzusehen wie andere für viel weniger Arbeit
viel mehr Ruhm und Geld kassieren?
M H: Du
sagst es. Ich habe im Laufe der Jahre alle so sehr offenkundigen
und plumpen Trends der 90er miterlebt und dabei auch so viele
„Pseudophänomene“ kopfschüttelnd, aber
auch schmunzelnd hingenommen. Der Planet „Erde“
verblödet leider zunehmend. Das begann irgendwo in der
Literatur, setzte sich mit Dutzenden Simplifizierungen fort
und endete eben (scheinbar) in der U-Musik, beruhigt mich aber
insofern, da wir dieser „Verblödung“ und „Simplifizierung“
als Vertreter der „ernsten“ Musik immer schon aus
dem Weg gegangen sind. Dass viele und immer mehr Bands und Künstler
(deren Name wohl jeder kennt) mit NULL Aufwand und einer nahezu
vorwurfsvoll schlampigen und ungemein oberflächlichen künstlerischen
Auseinandersetzung in ohnehin peinlich gewordenen Genres wie
der „Schlagerszene“, der „Black Metal-Szene“
oder der „Gothic-Metal-Kiste“ Platz fanden oder
immer noch finden wollen, zeigt wohl auch, dass diese zunehmend
„stinkenden“ Auffangbecken schon seit Jahren viel
zu groß sind und das „Maß aller Dinge“
in jeglichen Genres schon dermaßen oft kopiert wurde,
dass man die wahren Originale gar nicht mehr findet.
Aber
das ist nicht nur in der Musik so – gleiches gilt für
den Film oder die Literatur. Ich selbst habe wirklich kein Problem
damit, wenn ein peinlicher Schlagerstar damit leben kann, reich
aber eben peinlich zu sein. Und wenn er sich dessen nicht bewusst
ist, so gönne ich ihm das auch. Der komplette „Banal-Hype“
im kommerziellen Musikgeschäft samt der so mächtigen
Plattenindustrie als „der große PLAGIATOR“
schwemmt die Ohren der „Durchschnittsbürger und -hörer“
förmlich in den Kanal – ja lässt die Leute Schwachsinn
lallen, in gesammelten Massen vor aufgeputzten Bühnen zum
Playback jener CD hüpfen, die sie ohnehin zu Hause haben
und zeigt auf, mit welch niedrigen und oberflächlichen
Mitteln „der Mensch“ als solcher zu beeindrucken
ist. Dass wahre Qualität ganz woanders schlummert, Termini
wie „gut“ und „schlecht“ in dieser musikalischen
„Scheinwelt“ quasi verkehrt rum existieren und aussagelose
„Künstler“ am großen Eurokuchen mitnaschen
dürfen, ist zwar ärgerlich, mir aber mittlerweile
über alle Berge hinaus egal. Ich erlebe immer wieder kopfschüttelnd,
welch geringen Anspruch unzählige Menschen an ihr eigenes
Leben stellen - mit welch oberflächlicher „Ware“
sie sich grundsätzlich zufrieden geben, ja welch „tiefe“
Filmkost auf der Bestsellerliste der heimischen Kinos steht,
welche Pointen diese Leute im Werbeteil einer Kinovorstellung
versäumen und zu welchen schnöden Szenen sie händeklatschend
„Den Film gib i ma!“ schreien, ja welch interessante
Strategien und Abwehrmechanismen sie jenen Kulturprodukten entgegen
bringen, die sie auf Grund des phänomenalen „Massenverblödungseffektes“
oder ihrer seichten Persönlichkeit gar nicht verstehen.
In
der weiten Musiklandschaft wie auch im Filmsektor oder der Belletristik
gibt es grundsätzlich nichts Schlimmeres auf dieser Welt
als die Tatsache NUR „mittelmäßig“ zu
sein, weil man mit der Vielzahl der auf diese Art und Weise
erzeugten „Ergüssen“ einen von zu vielen Menschen
ernst genommenen „Standard“ festschreibt. Immerhin:
Es gibt unzählige „mittelmäßige Bands“,
„mittelmäßige Konzepte“, „mittelmäßige
Bücher“, „mittelmäßige Filme“,
„mittelmäßigen Perfektionismus“, eine
„mittelmäßige künstlerische Auseinandersetzung“
und „mittelmäßige CDs“. Wer das merkt
ist KÖNIG – wer nicht einer der vielen „Blödmänner“
im Wirtschaftsdenken der Musik-, Film- und Literaturindustrie.
Freilich
weiß ich, dass ich dem „Idealismus“ in meinen
Stücken immerzu protagonistisch und aufwertend begegnen
werde und „Geld“ und „Kommerz“ für
mich schlichtweg und oft genug unsympathische Verlockungen für
den künstlerischen Gehalt eines Produktes sind, jedoch
gibt es ganz bestimmt auch immer wieder hervorragende Künstler,
die von der Öffentlichkeit respektiert werden und auf ihre
ureigene – vielleicht ja kommerziell wertvolle Art –
etwas „kompromissloses Besonderes“ kreieren. Zu
sagen, dass jegliche Qualität nur unter niedrigen Verkaufszahlen
und „faktisch zu originellen Ideen für eine oberflächlich
gewordene Gesellschaft“ begraben liegt, wäre sicherlich
falsch. Es gibt viele Künstler in allen denkbaren Genres,
die ich überaus genial und unikal finde und denen ich deren
Erfolg auch in jenem finanziellen Ausmaß gönne, der
ihre für mich wichtige Kontinuität gewährleistet.
Unbestritten bleibt nämlich, dass es auch in teils belächelten
Genres wie der POPMUSIK außergewöhnliche Künstler
und Bands gibt, die in Einzelfällen ja gerade deshalb,
weil sie „außergewöhnlich“ sind, derlei
beklatscht werden. Einem Robbie Williams etwa gönne ich
alles – der ist ohne Zweifel ein besonderes „Original
mit schräger Ausstrahlung“ und wie ich meiner der
größte Popkünstler der Gegenwart sowie der letzten
20 Jahre.
Musik
der kommerziell gesinnten „Highways“ des UNDERGROUNDS
ist aber leider oft genug so durchsichtig, so offenkundig transparent,
so geringfügig entdeckenswert, dass sich der manipulierte
Konsument derartiger Musik gar nicht zu wundern braucht, wenn
ihm dadurch das aktive Hörerlebnis ausbleibt. Denn: „Was,
bitte schön, soll es in einem bloß gelegten Tondokument
für einen an sich interessierten Hörer noch zu entdecken
geben?“ Im breiten Underground haben sich leider jene
Produkte durchgesetzt, die sich – unabhängig von
ihrer Qualität - gut vermarkten lassen.
Aus
dieser Sicht bzw. „Nicht-Sicht“ der Dinge habe ich
ANGIZIA 1994 ins Leben gerufen und als trotziges
„Musikgeschöpf“ ABSEITS der schnöden Kompromissarbeit
zwischen wirtschaftlich „gelenkten“ Künstlern
und geldgeilen Plattenfirmen existieren lassen. Dass manche
Labels (ich behalte deren Namen im Kopf) wohl ihr Leben lang
nicht kapieren werden, dass vor allem im Underground und in
der „Metal-Szene“ hohe Verkaufszahlen so ganz und
gar nichts über die Qualität einer Band, einer CD,
einer Produktion aussagen müssen, und selbst die gehypten
Kritiken all jener Magazine, die als „richtungweisend“
gelten, oft genug Resultat einer solidarischen Überreaktion
sind, finde ich schwach, prinzipiell aber leider typisch und
für den Gehalt des „Genres“ selbst äußerst
schade.
Ich
hätte es mit ANGIZIA gewiss auch in der
Hand gehabt, dieser ureigenen und eigentlich „augenzwinkernden
Welt“ anzugehören, ja hätte alleine auf Grund
der Professionalität der Musiker und dem ohnehin logischen,
so klar vorgezeichneten Profil von „sich gut verkaufender
Musik“ in allen denkbaren Gassen jederzeit auch Alben
für die Massen entwerfen können, die den auf Oberflächlichkeit
ausgerichteten Geschmack der „besten Käuferschicht“
durchaus befriedigen würden. ANGIZIA aber
hat sich mit seiner Exzentrik wohlwollend in eine eigene Welt
gehievt und ist stolz darauf, etwas Besonderes und nicht „die
Kopie der Kopie der Kopie“ zu sein. Beides – EXZENTRIK
und WIRSCHAFTLICHEN ERFOLG - zu erreichen wäre mit jener
ANGIZIA-typischen Art und Weise, sich künstlerisch
auszudrücken unmöglich. Lieber „eigenständige
Kunst“ für ein kleines, selektiertes und tiefsinniges
Publikum betreiben als Fischfutter für die Massen zu sein!“
NH:
Auf 39 Jahre für den Leierkastenmann wird zwar
eine Vielzahl an Instrumenten eingesetzt, jedoch fehlt der namensgebende
Leierkasten – warum das?
MH: Den
Leierkasten als „Pseudoprotagonisten“ habe ich aus
dem musikalischen Konzept gedrängt, weil ich ihn nicht
thematisch ausreizen wollte und den Titel des Stücks (39
Jahre für den Leierkastenmann) eher als redundantes,
aber sehr wohl gezieltes Beiwerk verstand als einen „Wort
für Wort“ umzusetzenden musikalischen Plot. Dabei
trenne ich die Figur des „Leierkastenmannes“ ganz
klar vom Mysterium des „Leierkastens“ selbst. Und
das ist ja der entscheidende Punkt: Der Leierkastenmann als
theatrale Figur ist essentiell, nicht sein Instrument, der „Leierkasten“.
Für mich war maßgebend, wie ein Leierkastenmann in
der musikalischen Welt ANGIZIAs atmen kann.
Unter diesem Aspekt ist der Titel dieses ANGIZIA-Stücks
noch wertvoller. Zudem erschien es mir weitgehend spannender,
den Leierkasten selbst eher „auratisch“ zu betrachten,
ihn im musikalischen Konzept nur anzudeuten und damit eine weit
mystischere Landschaft zu kredenzen. Das war auch der Grund,
warum wir nicht den famosen österreichischen Werkelmann
Oliver Maar engagierten, sondern den Polen Krzysztof Dobrek
als vielleicht besten Akkordeonisten Europas. Seine „kosmopolitische“
Spielkunst ermöglichte uns den Spannungsbogen aus unserem
ursprünglich bedachten Genre hinaus zu tragen und Angizia
selbst im selben Ausmaß unikaler und noch weniger „schubladisierbar“
zu machen.
Darüber
hinaus legte ich bei diesem Album Priorität auf die Symbiose
aus wehmütiger Tragik und zirkustauglicher Komik, was wir
mit Instrumenten wie Piano, Cello und Violine auf der einen,
aber Akkordeon, Klarinette, Tuba und Posaune auf der anderen
Seite auch geschafft haben. Darüber hinaus darf man nicht
vergessen, dass der „Leierkasten“ keineswegs ein
beliebig einsetzbares Instrument ist, das man quasi improvisatorisch
wie eine Violine, eine Klarinette oder ein Akkordeon jederzeit
und überall einsetzen kann. Da wir aber in ANGIZIA
zu immer „freieren“ und „offeneren“
Schemen tendieren, schließe ich nicht aus, im Nachfolgestück
von 39 Jahre für den Leierkastenmann
sporadisch auf den Klang eines Leierkastens zu setzen.
NH:
Das Klavier ist ja im Gegensatz zu Das Schachbrett des Trommelbuben
Zacharias doch vermehrt in den Hintergrund gerückt
– war dies ein notwendiger Schritt, um auch für die
anderen Instrumente Platz zu lassen?
MH: Kann
man so verstehen, ja. Ich hatte auch keine Lust mehr, ständig
nur mehr auf das Piano reduziert zu werden. Für die groteske
Theatralik des Stücks und die unterschiedlichen musikalischen
Temperamente war es ohnehin von Nöten in das musikalische
Konzept viele eigenwillige, extreme und dem vokalen Wahnwitz
entsprechende Instrumente zu involvieren. Außerdem schafften
wir somit eine unmittelbare Nähe zur Epik des Stücks.
Im aktuellen ANGIZIA-Konzept hat das Klavier
dramaturgisch bedingt aber wieder mehr zu seiner Hauptrolle
gefunden.
NH:
Wer ist die Person des Elias Hohlberg? Eine fiktive Figur oder
eine Abbildung deiner Persönlichkeit?
MH: Ein
ANGIZIA-Stück ist immer so angelegt, dass
das Wesen bzw. die Hauptfigur des Stücks in (s)einer fiktiven
Welt äußerst "realistisch", wenn auch bewusst
überzeichnet wirkt. Ich selbst habe dabei keineswegs das
Bestreben, die Figuren der ANGIZIA-Stücke
mit meiner eigenen Person in Einklang zu bringen, obgleich es
für mich klarerweise ein Einfaches ist, die Hauptfigur
meiner Stücke in der Vertonung stimmlich zu beseelen, da
ich ja schon beim Schreiben der Geschichte mit dem Protagonisten
des jeweiligen Stücks verschmelze. Elias Hohlberg als Hauptfigur
von 39 Jahre für den Leierkastenmann
beispielsweise hat vielmehr Modell- und Paradigmencharakter
für den "idealistischen Menschen" und explizit
für den "jüdischen Idealisten im 2. Weltkrieg"
als er Teil von mir selbst ist. Die Geschichte rund um einen
jüdischen Spielmann, der dem Krieg ein dreistes Ständchen
singt, habe ich so verfasst, dass sie retrospektiv weltverbessernd
wirkt. 39 Jahre für den Leierkastenmann
gleicht meiner Vorstellung einer optimierten Weltkriegsgeschichte,
die neben der Diffamierung der Soldatenleistung bzw. einer absoluten
zynisch-satirischen Haltung des Stücks vor allem ein aufsässiges
Antiheldentum und tollkühne, ja bewusst übermütige
Musikanten ins Leben ruft.
ANGIZIA
ist deswegen aber keineswegs eine primär politische Formation.
Das zu Grunde liegende Wesen der einzelne Stücke, u. a.
eben meine projüdische Haltung im Zusammenhang mit dem
Weltkriegsszenario bei 39 Jahre für den Leierkastenmann,
ist im Einzelfall stückmotiviert. Elias Hohlberg ist somit
eine fiktive und moralisch wertvolle Figur, und nicht Abbild
meiner Persönlichkeit. Dass Literaten, Essayisten, Novellisten
und generell Verfasser schriftlicher Texte ihre Stücke,
Novellen, Romane etc. oft genug in der Rolle des Protagonisten
schreiben und quasi mit der Seele „ihrer geliebte Hauptfigur“
in ihrer ihnen so vertraut gewordenen literarischen Welt weiter
leben, scheint ein oft ausgesprochener und plausibler Gedanke
zu sein – die Tatsache, dass man als betreffender Künstler
in der Position wäre, durch die Figuren seines Stücks
mit eigenen Anschauungen, Haltungen etc. zu wirken, ist freilich
mehr als nur verlockend.
NH:
Die Vorbereitungen für 39 Jahre für den Leierkastenmann
haben ja über 2 Jahre gedauert – wie verlief der
Entstehungsprozeß? Nach welchen Kriterien wurden die Musiker
ausgesucht und inwieweit sind sie in den Prozess involviert?
MH: Bei
ANGIZIA existiert immer zuerst die KÜNSTLERISCHE
IDEE und dann das eigens für diese Idee verfasste Stück,
das zur Grundlage einer unkonventionellen Musiktheaterarbeit
mutieren soll. Erst aus der Quintessenz unserer Kompositionsarbeit
heraus entwickle ich konkrete Vorstellungen, welche Musiker
das gegenwärtige Konzept wohl am besten umsetzen können.
Klar - das einzig denkbare und logische Kriterium in ANGIZIA
ist es, intelligente und perfekte Musiker zu finden, die einem
schrägen Musikprojekt wie 39 Jahre für
den Leierkastenmann auf Grund ihrer Liebe zu „freier,
lebendiger und extremer Musik“ beitreten wollen. Das Kollektiv
von 39 Jahre... war derlei hochwertig,
dass es – von kleinen Ausnahmen einmal abgesehen –
künstlerische Kontinuität finden wird. Das geht auch
aus dem Umstand hervor, dass die aktuellen ANGIZIA-Musiker
äußerst vielseitig und daher für mich auch konzeptübergreifend
einsetzbar sind. Gerade professionelle Künstler und Musiker
bieten ANGIZIA umgekehrt freilich auch viele,
eigentlich quasi unbeschränkte Möglichkeiten, um das
auszudrücken und umzusetzen, was ich mir unter einem Stück
wie 39 Jahre für den Leierkastenmann
vorstelle. Andererseits unterscheide ich bei ANGIZIA
immerzu auch zwischen Künstlern, die das Projekt prägen
und jenen, die prinzipiell austauschbar wären. Fakt ist,
dass ein professioneller Instrumentalist von mir idealisierte
musikalische Sequenzen weit besser umsetzen und ausdrücken
kann als ein Hobbymusiker der Kategorie „Wenn ich übe,
kann ich das schon!“ Das wird wohl in keiner Musikformation
dieser Welt anders sein.
Aus
ihrem umfangreichen Erfahrungshorizont heraus (und einer damit
verbundenen für mich wichtigen Flexibilität) sind
professionelle Musiker für ANGIZIA mittlerweile
unabdingbar geworden. Die meisten Instrumentalisten finden allerdings
erst dann ihre Aufgabe im respektiven ANGIZIA-Projekt,
wenn das Grundinstrumentarium (Piano, Bass, Schlagzeug, Gitarren)
bereits aufgenommen ist, und die Sänger den dynamischen
Weg des musikalischen Konzeptes aufgezeigt haben. Auf Grund
der enormen Professionalität der einzelnen Musiker sind
Einzelproben nur am Flügel bzw. im speziellen Falle auch
mit Schlagzeug, Gitarren und Bass von Nöten. Sämtliche
Instrumente werden zwar von Beginn an in das Arrangement der
einzelnen Kompositionen eingeplant – aber auf Grund der
Tatsache, dass wir genau wissen, was wir von den einzelnen Musikern
erwarten dürfen und was sie imstande sind von „Null
auf Hundert“ umzusetzen, ist es ein Leichtes, viele Details
erst vor Ort (im Studio) zu klären. „Gewöhnliche“
Musiker könnten viele Sequenzen von 39 Jahre
für den Leierkastenmann wahrscheinlich auch
gar nicht zufriedenstellend ausdrücken. Gleiches gilt für
unsere - wie ich meine – sehr charakteristische Gesangsarbeit,
weil ich - bezogen auf die rare Auswahl an „Koryphäen“
und vokalen Autoritäten für diese Art der Musik -
ohnehin von an sich „einmaligen“ bzw. „nicht
zwei mal existierenden“ Gesangscharakteren ausgehen muss.
Demzufolge hält sich bei jedem Angizia-Album das Engagement
von einerseits professionellen, ja famosen Musikern und andererseits
„unersetzbaren“ (charismatischen) Gesangscharakteren
die künstlerische Waage. Ganz bestimmt wird ANGIZIA
in seinem Konglomerat aus Profi-Musikern und (heute) so selten
gewordenen „verrückten Idealisten“ zu dem,
was der Konsument unter „Angizia“ versteht. Proben
im klassischen Sinne gibt es in ANGIZIA keine.
Zum
Entstehungsprozess von 39 Jahre für den Leierkastenmann:
Das Feilen an den Songstrukturen selbst zeigte sich (erstmals)
sehr aufwendig, da wir das Klavier etwas vernachlässigen
wollten und äußerst konsequent die instrumentale
Gleichberechtigung des Pianos mit Instrumenten wie Akkordeon,
Violine, Bass und Klarinette gesucht haben. Die kompositorische
Vorgabe des Stückes verlangte auch viele neue Musiker,
die allesamt professioneller Natur waren und mit instrumenteller
wie interpretatorischer Perfektion den idealen musikalischen
Rahmen für 39 Jahre... ermöglichten.
Die
Arbeit an 39 Jahre für den Leierkastenmann
nahm in etwa 2 ½ Jahre in Anspruch und setzte schon Anfang
1999 (quasi zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Das
Schachbrett des Trommelbuben Zacharias) mit der
so wichtigen Vorarbeit an der Epik des Stückes ein. Mit
dem Ziel, ein sehr unkonventionelles Musiktheaterstück
zu kreieren, begann ich (nach dem Skizzieren des Stückinhalts)
gemeinsam mit Emmerich Haimer die sehr aufwendige Kompositionsphase,
die wir etwa 1 ½ Jahre dauern ließen. Das Integrieren
der Hörspielsequenzen in die 3 Akte des Stücks behalte
ich als äußerst sensible Arbeit in Erinnerung, das
vokale Arrangement des Albums wurde über 1 Jahr hinweg
(unmittelbar parallel zur Tondichtung) erarbeitet und dann in
der Studiophase zunehmend konkretisiert. Die so beharrliche
Auseinandersetzung mit dem Stück im Studio unseres Violinisten
Roland Bentz war auch wirklich von Nöten, um ein derart
intensives wie intimes ANGIZIA-Werk zu ermöglichen.
Gute
Musiker für ANGIZIA zu gewinnen war eigentlich
nie problematisch, weil unsere Musik/unsere Alben bzw. auch
der Gedanke hinter ANGIZIA selbst für
jeden noch so beruflich ambitionierten und vielbeschäftigten
Musiker wie Krzysztof Dobrek, Bernhard Seibt oder Roland Bentz
eine sehr willkommene künstlerische Abwechslung bedeutet
und v. a. auch kommerziell arbeitende Musiker gerne auch schrägen
und äußerst unkonventionellen Konzepten und Ideen
in anderen musikalischen Milieus frönen wollen. Ich habe
zu all diesen Leuten auch eine sehr gute Basis, zumal sie nicht
nur musikalisch-virtuos gesehen professionell, sondern auch
menschlich wie in der Abwicklung des Kooperationsprozesses an
sich professionell sind. Da mit ANGIZIA nach
wie vor eher ein umfassender Projektgedanke gemeint ist als
weit weniger eine „familiäre und sehr umgängliche
Beziehung zwischen allen Bandmusikern“ und sich das gewünschte
Instrumentarium eines Albums auch primär am Konzept des
selbigen orientiert, sind virtuose Musiker für die musikalische
Umsetzung der ANGIZIA-Epik unerlässlich.
Für unsere weitere Zukunft wäre es gewiss unvorstellbar,
professionelle Musiker, die erwünschte musikalische Temperamente
bzw. die Stimmung unsere Stücke 1:1 umsetzen können,
durch weniger ambitionierte zu ersetzen; vor allem dann nicht,
wenn unsere musikalischen Konzepte auf virtuose Instrumente
ausgerichtet ist.
Dass
sich renommierte Instrumentalisten aus anderen musikalischen
Milieus mit der musikalischen Umsetzung meiner Stücke bzw.
mit unseren Kompositionen immerzu aufs Neue äußerst
seriös auseinandersetzen wollen, beziffert ja auch den
ideellen Wert des ANGIZIA-Kollektivs.
NH:
Ihr habt mit Rainer Guggenberger und Mario Nentwich ja 2 Mitglieder
der österreichischen Band FREUND HEIN in euren Reihen –
wie bist du eigentlich auf die beiden Sickos gestoßen?
MH: Nun,
ganz einfach: Beide passten perfekt ins Kollektiv von 39
Jahr für den Leierkastenmann – Rainer
Guggenberger als schräger und offensiver Bassbuffo und
Mario Nentwich als genreübergreifender Pianist, der unsere
Kompositionen auf einem Flügel umzusetzen hatte. Deren
Wirken in FREUND HEIN und FREUND HEIN selbst hatten aber nie
etwas mit ANGIZIA zu tun.
NH:
Ich habe gelesen, dass es zu 39 Jahre für den Leierkastenmann
eine Art Libretto geben soll, das die Texte und nähere
Beschreibungen beinhalten soll. Ist es bereits erhältlich,
wie sieht es aus? Ist es deiner Ansicht wichtig, es zu besitzen,
um die Stücke richtig zu verstehen?
MH: Das
Libretto von 39 Jahre für den Leierkastenmann
enthält sowohl die Gesangslyrik des Stücks als auch
jeweils informative Einleitungen in die 18 Kapitel des in 3
Akten gegliederten Konzeptes. Darüber hinaus gibt das im
Stile von Theaterskripten der 70er-Jahre gehaltene Manuskript
Aufschluss darüber, von welchen Sängern die einzelnen
Sequenzen der musikalischen Umsetzung bestritten wurden.
NH:
Da die Stücke allesamt komplex und doch ausgefüllt
sind, und dabei so viele Facetten wie möglich ausgewirbelt
werden, drängt sich in mir doch die Frage auf, ob du dich
selber als Perfektionist bezeichnen würdest.
MH: Perfektionist
bin ich – JA. Aber Perfektionisten sind auch viele meiner
Mitstreiter wie etwa Irene Denner, Jochen Stock, Gabriele Böck
oder Roland Bentz. In meinem Falle ist ein bewusster und impliziter
Perfektionismus wesentliche Voraussetzung dafür, dass ANGIZIA
nicht im Chaos versinkt und von Hunderten unkoordinierten Ideen
verschüttet wird. Ich möchte meine künstlerische
Idee, mein Ideal von „Wie muss ein optimales musikalisches
Ergebnis aussehen?“ perfekt umgesetzt wissen und würde
für den Inbegriff meiner künstlerischen Arbeit samt
den dafür entwickelten Visionen gleichfalls durch die Hölle
gehen.
Ich
habe aber kein Problem damit, mich von meinen Idealen besessen
zu zeigen, um aber von meiner „Verrücktheit“
gänzlich unbeeindruckt zu bleiben bzw. in ein Projekt Geld
zu investieren, das manch anderer „ohne finanzielle Perspektiven“
sofort wieder eingestellt hätte. Wahrscheinlich erklärt
das auch von selbst, dass wir uns damit eine enorme künstlerische
Freiheit zugestehen, die uns ermöglicht, derlei genre-distanzierte
und nonkonformistische Musik zu betreiben.
Grundsätzlich
arbeiten in und für ANGIZIA ausschließlich
„Musikbesessene“, allerdings erachte ich es als
die natürlichste und gewöhnlichste „Sache“
der Welt, immerzu aufs Neue ins Studio zu gehen, um das mit
„Perfektion“ umzusetzen wofür man „lebt“
und „leben will“.
NH:
Du bist ja bereits dabei, das neues ANGIZIA-Stück Der
Requiemlauscher zu schreiben, das eine Fortsetzung der
Geschichte auf 39 Jahre für den Leierkastenmann
werden soll – wie geht es da voran? Werden wieder die
selben Musiker mitwirken? Denkst du vielleicht sogar an einige
Veränderungen oder wird das Stück als Fortsetzung
ein nahtloser Übergang sein?
MH: Geplant
ist zunächst einmal die Umsetzung einer für ANGIZIA
untypischen Fortsetzungsgeschichte von 39 Jahre
für den Leierkastenmann, was konkret bedeutet,
dass die Handlung des neuen Stücks nach dem physischen
Tod von Elias Hohlberg in 39 Jahre...
nur mehr metaphysisch und überirdisch umgesetzt werden
kann (und will). Dieses verrückte Szenario erlaubt mir/uns
eine ganz eigene und jenseitig-originelle musikalische Vertonung
gewiss schräger epischer Motive, die wir mit aparter und
etwaige auch abnormer Instrumentierung und teils gezielt hörspielorientierten
Stimmen zum Ausdruck bringen werden. Dieses „schaurig
schöne Friedhofsstück“ wird bestimmt noch mehr
"Hörspiel" sein als 39 Jahre für
den Leierkastenmann und sich ausschließlich
der Szenerie des Königsberger Friedhofes bedienen. Der
in ANGIZIA-Werken ohnehin immer wieder gesuchte
Dialog mit dem "Tod" wird mit diesem Werk seinen bizarren
Höhepunkt finden.
Nach
der Veröffentlichung von 39 Jahre für
den Leierkastenmann habe ich zunächst einmal
das morbide Konzept des nächsten „so sehr schaurig
schönen und entrischen Friedhofsstücks“ skizziert
und auf losen Zetteln zu Papier gebracht, wollte mir aber über
einige Wochen hinweg eine musikalische Auszeit nehmen, um die
besonders schwierige Materie dieses „durchwegs kranken
Stücks“ auch literarisch optimal vorzubereiten. Es
war mir bald klar, dass die Hauptfigur des Elias Hohlberg in
diesem Friedhofsstück eine weitgehend „wahnsinnigere“,
ja irrsinnigere Rolle finden wird als etwa bei 39
Jahre für den Leierkastenmann. Darüber
hinaus wird der „Leierkastenmann“ nun zum „Werkelmann“
mutieren und eine eher atypische protagonistische Umsetzung
der Figur erfahren.
Zudem
galt es der vorsätzlichen Arbeit an scheinbar kränklichen,
verwirrten Szenen zu frönen, die in einem Stück „unter
Leichen“ allerdings und wiederum „normal“
sind. Es entsteht in diesem Friedhofsstück eine zwar überaus
exzentrische musikalische Atmosphäre, die aber für
den Hörer trotz jeglicher Morbidität „realistisch“
klingen muss (und wird). Gerade diese „so drückende
Landschaft jenseits des Todes“, die ich mir in ein abnormes,
nicht perverses „Reich der Toten“ wünschen
wollte, wird dem geneigten Hörer des Stücks als „furchtbar
intime“ und schlichtweg „einmalige“ und niemals
wieder duplizierbare Auseinandersetzung mit teils auch witzigen
Motiven erscheinen. Wir haben schon bei der Vorproduktion der
Stücke Schaukelkind und Hoppa Hoppa Reiter
(im April 2003) darauf Wert gelegt, dass die einzelnen
Figuren („Der Werkelmann“, „Bertram, der Knecht“,
„Der Teufel“, „Die Bucklige“ etc.) dem
Hörer ungemein „direkt“, „intim“
und in ihrer bizarren Aura nahezu „existent“ gegenüber
treten. Genau im Gegensatz zu den kommerziell und populär
orientierten Formationen aller möglichen Genres, die es
sich selbst zur Priorität machen müssen, ihre Alben
möglichst „kantenlos“ und schlichtweg „wieder
duplizierbar“ zu gestalten, damit sie die Nummern ihrer
CDs auch „live“ ähnlich, sprich „wieder
erkennbar“ präsentieren können und die „geschlossene
Masse“ eines Konzertsaals all die „Hits“ auch
gnadenlos mitbrummen kann, entwickeln wir eine das ganze Stück
durchwehende, nahezu „improvisiatorisch“ empfundene
und so sehr intime Stimmung, die gerade bei Sprechsequenzen
den absoluten Eindruck hinterlässt, als würde das
eben Dargebotene dem vor den Boxen seiner Anlage Kauernden unmittelbar
und „jetzt“ vor Augen und Ohren geführt werden.
Im
Moment stehen wir kurz vor dem ersten Aufnahmeabschnitt in den
Studios von Jochen Stock und Roland Bentz. Es gilt dabei einmal
30 Minuten und damit für das Stück fundamentale Musik-,
Sprech- und Versatzstücke aufzuzeichnen, die dieses Stück
prägen und seinen so sehr eigenartigen Charakter festschreiben,
um danach (im Winter 2003/04) alle anderen gedachten Kompositionen,
Monologe, Kinderreime etc. in das Stück zu involvieren.
Dieses Procedere nimmt freilich direkt Bezug auf das, was ich
dir zuvor über meine Absicht, „unmittelbar“
und „augenblicklich“ wirken zu wollen, geschrieben
habe.
Wann
das Album fertig sein soll, möchte ich nicht genau prognostizieren;
wir arbeiten jedenfalls hart daran. Fest steht allerdings, dass
das Stück höchstwahrscheinlich nicht Der
Requiemlauscher heißen wird – ich
habe diesen Titel eher als „Arbeitstitel“ verstanden.
Generell betrachte ich das nächste ANGIZIA-Stück
als „rhythmisch-strukturiertes Hörspiel mit Versatzstücken
aus Sprache, Musik, Geräuschen und akustischer Leerstelle"
– ein Stück, das mittels nahezu unfassbar verrückten
und wahnwitzigen Stimmen erzählt wird. Dieses entrische
Friedhofsstück soll dem geneigten Hörer ein "bizarres
Schallspiel" bringen, welches ANGIZIA
von einer unwahrscheinlich "intimen" und unikalen
(neuen) Seite zeigen wird. Ich spreche dabei gerne von einer
"Landschaft jenseits des Todes", die mit Instrumenten
wie Klavier, Violine, Cello, Kontrabass, "Singende Säge"
oder Akkordeon und mittels ungemein "lebendigen" theatralischen
Stimmen zum unmittelbaren Ausdruck gebracht wird. Viele Musiker
werden wir im Kollektiv behalten. Gerade aber was die Pianoarbeit
betrifft, sind wir immer auf der Suche nach neuen Alternativen
– darüber hinaus beanspruchen neue, exzentrische
Instrumente immer auch neue, „exzentrische“ Musiker.
NH:
Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen eine derartige
Melange aus verschiedenartigsten Klängen zu kreieren?
MH: Angizia
bewegt sich eigentlich seit Die Kemenaten scharlachroter
Lichter (1997) völlig außerhalb breit
getretener musikalischer wie künstlerischer Pfade, was
aber weder zwangsweise herbeigeführt wurde noch als Panikreaktion
auf die recht platte Musikkultur jener Tage zu verstehen war,
sondern aus einem für mich logischen "Prozess"
im Umgang mit "Gleichgesinnten" und "verrückten
Idealisten" hervor ging. Die Tatsache, dass ich das ANGIZIA-Kollektiv
oft genug verändern ließ, begründe ich auch
retrospektiv mit doch recht unterschiedlichen Anforderungen
schlichtweg verschiedenartiger ANGIZIA-Projekte,
die zwar allesamt passionierte Künstler bemühten,
jedoch immer auch ein spezielles Musikerprofil beanspruchten.
So wäre es der Stimmung von Die Kemenaten
scharlachroter Lichter kaum bekommen, hätten
wir damals das Cello mit Akkordeon und Tuba kompensiert. Andererseits
sind genau jene Instrumente für 39 Jahre für
den Leierkastenmann unentbehrlich geworden. Ähnliches
gilt für die Wahl der Gesangscharaktere, die bewusst von
Album zu Album stückbezogen differierten.
Nun:
"Wie kommt man darauf, diese Melange aus verschiedensten
Klängen zu betreiben?" Das ist eigentlich eine Frage,
die ich gar nicht "einwandfrei" beantworten kann.
Nun, ich denke, dass es kein gesondertes Motiv dafür geben
muss, das zu tun, was man inbrünstig und idealistisch-trotzig
zum unmittelbaren Ausdruck bringt, weil man es entgegen der
Auffassung anderer als die "natürlichste" und
"selbstverständlichste" Sache der Welt ansieht.
ANGIZIA vereint nicht unbedingt beispielhafte
Musikstile (à la "Hey, suchen wir uns doch im Musikstilsupermarkt
das Beste heraus"), um dadurch für andere repräsentativ
zu sein, sondern realisiert viel eher anomale Stimmungen sowie
"musikalische" Temperamente mit der dreisten Gleichgültigkeit,
der breiten Musikindustrie völlig egal sein zu können.
Ich denke, diese "indirekte" Leitlinie macht ANGIZIA
auch automatisch zu jenem unbeschwerten und vor allem querköpfigen
Kunstgeschöpf, das stets darauf bedacht ist, "spezielle
Epik" auf eine "sehr eigene Art und Weise" zu
vertonen. Ohne dieser pflichtbewussten "Gleichgültigkeit"
der Musikindustrie gegenüber wären unsere Werke nicht
zufriedenstellend umzusetzen. Dass wir – wie im aktuellen
Falle – schräges Musiktheater mit Klezmer, Klassik,
avantgardistischer Zirkusmusik, Kinderliedern, Kinderreimen
oder Gattungen wie Rock, Jazz oder Hörspiel verknüpfen,
war eigentlich eine von jeglichen Stilfragen und –orientierungen
unabhängige Entscheidung bzw. sogar „stilunbewusster“
Natur. Jegliche musikalische Ausdrucksformen, die eine nahezu
„omnipräsente theatralische Lebendigkeit“ gewährleisten
sind in ANGIZIA immer willkommen.
All
das impliziert aber auch, dass ANGIZIA in keinem
aller veröffentlichten Fälle "bewusst anders"
klingen wollte als andere Bands, Projekte oder Ensembles, zumal
ein derart unkonventionelles Schaffen schon von sich aus "einmalig"
und "nicht duplizierbar" ist und für seine "Existenz"
weder eine gesonderte Rechtfertigung sucht noch braucht. Was
ich immer wieder erfahren muss: Viele Vertriebe und Plattenfirmen
versuchen uns immerzu in Schubladen zu stecken, in denen wir
nie und nimmer Platz finden wollen. Wir sind weder Teil des
"Gothic Metal"-Genres noch sind wir eine Metal-Band,
weder arbeiten wir für ein allgemeingefälliges künstlerisches
Antlitz, noch für die Schublade des "Musiktheaters".
ANGIZIA ist KEIN pseudooriginelles Kunstobjekt,
KEINE musikalische Fallstudie, KEIN Unterhaltungsapparat für
oberflächliche Musikrezipienten. "Die für ANGIZIA
einzig und allein ausschlaggebende künstlerische Kategorie
heißt "ANGIZIA".
NH:
Gibt es deiner Meinung nach die „perfekte Musik“?
MH: Für
mich gibt es das – JA. Darunter verstehe ich aber nicht
die Melange aus verschiedenen Bands und Musikstilen, sondern
das einer bestimmten Formation zu Grunde liegende Potenzial
auf der einen und deren perfektes Ergebnis auf der anderen Seite.
Es gibt schlichtweg Bands, Ensembles und Formationen, die in
ihrem speziellen Stil und in ihrer ureigenen, so sehr unverwechselbaren
Art, Musik zu betreiben ein zugleich virtoses und schier unfassbares
Werk abgeliefert haben. Dazu zähle ich sämtliche Devil
Doll-Werke, Dobrek Bistround auch Konzeptalben wie ANGIZIAs
39 Jahre für den Leierkastenmann,
Dornenreichs Her von welken Nächten
oder Meret Beckers Nachtmahr.
39
Jahre für den Leierkastenmann IST ein perfektes
ANGIZIA-Album. Dass es aber weder ein Produkt
für die Masse, noch auf irgendeine Art und Weise „allgemeingefällig“
ist, scheint logisch. Um den Begriff „Perfektion“
als logisches Ideal professioneller Arbeit mit Angizia in Verbindung
zu bringen, sei – subjektiv betrachtet – das folgende
gesagt: Wenn ich während eines Studioaufenthaltes bzw.
schon davor zum Entschluss kommen müsste, dass wir mit
dem aktuellen Stück kein PERFEKTES ANGIZIA-Album
ermöglichen, so würde ich das Projekt kurzerhand einstellen.
Das Primär-Ziel eines jeden ANGIZIA-Albums
heißt: „Musikalische wie künstlerische PERFEKTION!“
Der Konsument aber erfährt das Resultat freilich erst dann,
wenn die Ziele des jeweiligen Künstlers bereits erreicht
wurden. Die etwaige Diskrepanz zwischen den Zielen des Künstlers
und den individuellen Vorstellungen des Rezipienten hat nichts
mit mangelnder Perfektion zu tun. Alleine auf Grund der jedem
Menschen zustehenden Subjektivität, entstehen immer wieder
unterschiedliche Meinungen zu einem einzigen „musikalischen
Gegenstand“. Ob ein ganz bestimmtes Album aber „perfekte
Musik“ sein soll, kann der Konsument im Gegensatz zum
betreffenden Künstler nur schwer beurteilen, weil er die
Ziele des Künstlers nicht kennt. Vielleicht sollte man
bei vielen Hörerlebnissen auch von einem „so perfekt
wie möglich gewordenen“ Album ausgehen. BESSER geht
es auf eine bestimmte Art und Weise eigentlich immer bzw. gibt
es immer wieder künstlerische Aspekte, die man heute so
und morgen anders sieht! Aber ein überaus stark ausgeprägtes
perfektionistisches Treiben sollte an und für sich schon
„perfekte Musik“ gewährleisten. Ansonsten wäre
der Ausdruck „perfekte Musik“ nämlich eher
wertlos und unwichtig.
NH:
Es ist ja schwer in einem mail-Interview auf Antworten zu reagieren...aber
ich nehme einmal an, die Antwort auf die letzte Frage wird nein
sein...jedenfalls – falls man es sich zum Ziel setzt,
das perfekte Musikstück zu schaffen – müsste
man doch als Mensch, der nun einmal ganz und gar nicht perfekt
ist – daran zerbrechen oder?
MH: Der
Mensch selbst ist ganz und gar nicht perfekt, das stimmt, aber
er ist in der Lage, (für ein Endziel ausgerichtet) perfekt
zu denken und dahingehend perfekte Produkte zu entwickeln. Das
bedeutet nun nicht, dass ein perfektes Album keine undefinierten
und vielleicht weniger interessanten Abschnitte aufweisen darf,
sondern erklärt vielmehr, dass gerade diese Passagen ein
perfektes Album ausmachen. Schwierig zu verstehen, aber Fakt.
Ich
betone auch gerne noch einmal, dass ich der überzeugten
Meinung bin, dass seriöse Künstler immer „so
perfekt wie überhaupt möglich“ arbeiten, um
eben das aus der eigenen Sicht heraus „perfekte Hörerlebnis“
zu ermöglichen. An einem „perfekten Musikstück“
würde ich wohl nur dann zerbrechen, wenn ich für dessen
Umsetzung ein quasi unbegrenztes Budget und darüber hinaus
noch beliebig greifbare Parameter wie „Chor“, „Orchester“,
„Dirigenten“ etc. zur freien künstlerischen
Verfügung hätte. „Perfektion“ hin oder
her – sie muss einem immanent sein, künstlich erzeugen
kann man sie nicht. Ob das für „perfekte Musik“
reicht, mag dahingestellt bleiben – eine Frage, die ich
mir selbst nicht stellen werde.
NH:
Woher nimmst du die Inspiration für dein Schaffen?
MH: Tja,
schwer zu sagen. Ich bin eigentlich immerzu sicher, dass ich
für ANGIZIA das Richtige mache und beziehe
meine Inspiration grundsätzlich aus meiner ganzheitlichen
Art und Weise zu denken und mit verschiedenen Ausdrucksformen
umzugehen. Für mich sind oft ganz eigenartige Dinge - dokumentarische
oder dialogische Sendungen, multimediale Ereignisse, soziale
oder theatrale Erfahrungen - inspirierender als ein obligatorisch
scheinendes Musikstück der heutigen Generation: Ein 3-Sat-Interview
mit Elfriede Jelinek, ein von einem interpretationsbesessenen
Kind vorgetragenes Herbstgedicht, Filme wie „Scherbentanz“
(mit Jürgen Vogel) oder „Die Klavierspielerin“
(mit Isabelle Huppert), eine surreale Leinwandgeschichte wie
etwa „Enfants du Miel“ von Anja Struck, eine von
Klaus Kinski wütend gelesene Raskolnikow-Beschimpfungsrede
usw.
Meist
regen mich eher redundante Dinge des Lebens (die so genannten
„Zwischenwelten“) an und damit grundsätzlich
Elemente, die für andere aus vielleicht sogar guten Gründen
gar nicht wahrgenommen werden (wollen). Zum Beispiel funkeln
meine Augen, wenn ich im Sperrmüll meines Nachbarn (neben
durchwetzten Wohnzimmermöbeln und allerlei Rost und Kram)
ein kleines Hutschpferd sehe oder im schlampigen Kostümverleih
(zwischen Zorro, „Batman“ und „Biene Maja“)
eine jämmerliche Clownmaske. Klar lese, höre und konsumiere
ich viel, aber meine Inspiration ist eine jederzeit unbeschwerte
und nicht eine, die sich „auf der Suche nach irgendetwas
befindet“. Das wäre nicht meine Vorstellung von „Kunst“,
„Kunst leben, erleben und diese für andere erlebbar
zu machen“.
Meine
Augen und Ohren sind immer weit geöffnet für vieles
und gleichzeitig auch für etliche Dinge verschlossen, die
mich einfach nicht interessieren. Auf Grund der Tatsache, dass
ich jüdisches Liedgut, avantgardistisches Musiktheater
(bzw. das was ich darunter verstehe) oder eben exzentrische
Zirkusmusik bewundere, sauge ich freilich immer wieder alles
auf, was ich damit im Kino, in Filmen, Dokumentationen oder
in Büchern (zum Konsum gedacht) vorfinde – ob das
aber „nachvollziehbare Inspiration“ ist, möchte
ich dahin gestellt lassen. Ich bin außerdem überzeugter
Cineast (meist unkommerzieller und unkonventioneller Filme)
und besuche nach wie vor viele Konzerte und Theaterbühnen,
um meine „eigene Sicht der Dinge“ – dem theatralischen
Medium zuliebe - zu forcieren. Somit ist meine permanente Inspiration
eine multimediale und multikulturelle, jedoch von mir selbst
gesteuerte Quelle, deren besondere Wirkung auf mich selbst mir
aber immer bewusst ist. Ich möchte mit ANGIZIA
immer etwas Neues machen – Stücke schreiben, die
es noch nicht gibt und Wirkungen erzielen, die zuvor noch nicht
erzielt wurden.
NH:
Woher kommt eigentlich dein Faible für Russland und das
Judentum?
MH: Gut,
mein Faible für die russisch-jüdische Musikkultur
ist zwar bekannt, der Bezug von 39 Jahre für
den Leierkastenmann zum Jiddischen ging aber sehr
wesentlich aus dem respektiven Stück hervor, das ich ganz
bewusst „in ein jüdisches Milieu zur Weltkriegszeit“
schrieb. Daraus ergab sich auch die so stückverbundene
Verwendung von Instrumenten wie Klarinette, Violine oder Akkordeon.
39 Jahre für den Leierkastenmann
integriert aber nicht ausschließlich unkonventionell gespiegelte
russisch-jüdische Einflüsse sondern auch (sehr wesentlich)
elitäre Zirkusmusik sowie Stilelemente aus recht unterschiedlichen
musikalischen Bereichen (Musiktheater, Hörspiel, Jazz,
Klassik, Rock, Avantgarde, osteuropäische Folklore...).
Es ist wahrscheinlich auch nicht richtig, zu sagen, dass wir
von diesem oder jenem musikalischen Genre „direkt“
beeinflusst sind – vielmehr liegt mir sehr viel daran,
ein Stück, das „projüdisch“ gemeint ist
und jüdische Themen beinhaltet, mit adäquaten und
ausdrucksstarken musikalischen Elementen zum unmittelbaren Ausdruck
zu bringen.
Gerade
das Zusammenspiel jüdischer Musiktradition mit musikalischen
Zirkuselementen, nonkonformistisch gespiegelten Hörspielsequenzen
und dem Musiktheater „als verwegene Aura des Gesamtwerkes“
machen ja ein Stück wie „39 Jahre für den Leierkastenmann“
erst zu dem was es ist: ein bezogen auf die so unkonventionelle
Art des Vortrages wahrscheinlich „unvergleichliches“
und „einmaliges“ Werk, das ob der Vielzahl sich
verbindender Elemente prinzipiell NICHT zu duplizieren ist,
egal ob man nun zur Musik des Stücks einen Zugang finden
sollte oder nicht.
Ich
konsumiere sehr viele theatralische bzw. eben interpretative
Ausdrucksformen, jedoch kaum einmal sprechminimiertes Traditionstheater
à la „Mac Beth“ oder „Einen Jux will
er sich machen“ weil mir diese konventionellste Form des
Theaters (paradoxerweise?) keine wesentliche Bereicherung für
meine künstlerische Arbeit darstellt. Für die jüdische
Musikkultur (wie übrigens auch für die russische)
war ich immer „sehr empfänglich“ – v.
a. gibt es in der Musik womöglich kaum einmal bessere Vermittler
des melancholischen Temperaments als eben jüdisch-russische
Violinisten wie Jascha Heifetz, Izhak Perlmann, Aliosha Biz
oder Alexej Igudesman. Die jüdische Musikkultur –
von Dutzenden Klezmerbands und wirklich genialen jüdischen
Projekten weltweit gepflegt - hat eine große Tradition,
auch hier in Österreich (Timna Brauer, Roman Gottwald,
Freilech,...). Für mich ist das jüdische Temperament
in einem Musikgeschöpf aber umso spannender, wenn es sich
in an sich weltliche oder spezielle Musikprojekte einschleicht,
sprich die „Bühne eines Musikstücks“ betritt,
um als Krönung desselbigen verstanden zu werden. Wenn du
in einem an sich französisch-kanadischen Zirkuskunstwerk
des Cirque Du Soleil nach bewusst warmen und dichten Musette-Arrangements,
einer fast orientalischen Mixtur aus bewusst „schiefen“
Violinen und einem äußerst jazzbedachten Blechblasinstrumentkonglomerat
aus Kornett, Tuba und Posaune plötzlich ein perfekt vorgetragenes
typisch „jüdisches“ Klarinettensolo hörst,
verstehst du was ich meine.
Auch
wir haben das „jüdische Element“ in die Struktur
von 39 Jahre für den Leierkastenmann eingebettet
und nicht thematisch breitgetreten, um aber in vielen Sequenzen
aufzuzeigen, dass „dies hier ein projüdisches Stück
sein soll“, bei dem nicht nur enthusiastisch auffordernde
Stimmen erzählen, sondern gleichfalls auch jüdisch-russisch
gesinnte Klarinetten und Violinen. Es wäre unmöglich
gewesen, 39 Jahre für den Leierkastenmann
ausschließlich mit Klängen einer jüdischen Klezmerband
zu erzählen, nur um damit einen „jüdischen“
Musikbezug zur Geschichte rund um den Protagonisten Elias Hohlberg
hergestellt zu haben.
39
Jahre für den Leierkastenmann erzählt
– zynisch wie ironisch – vom Leid eines jüdischen
Musikers zur Weltkriegszeit, um aber - mit Bedacht auf die prinzipielle
„Unmöglichkeit“, diese Geschichte zur Zeit
des Holocausts zu realisieren - an sich unsterblichen Idealismus
bzw. ein Weltverbesserungsstück mit retrospektiven Charakter
zum künstlerischen Ausdruck zu bringen. Viele musikalische
Sequenzen von 39 Jahre für den Leierkastenmann
beziehen sich auf das jüdische Temperament dieser Geschichte,
andere wiederum hatten die Aufgabe, die Geschichte zu erzählen,
sie vielseitig bzw. aus mehreren Blickwinkeln heraus zu schildern.
Dann wieder brauchten wir musikalische Abschnitte, die dem Hörer
die Fiktion der Zirkusstadt und ein komisch-tragisches Humoristenleben
auditiv näher bringen sollten. Aus all diesen Elementen
entstand schlussendlich ein 18 Kapitel umfassendes, dreiaktiges
Musiktheaterstück, das zwar (nach dem Motto „Von
Musiker – für Musiker“) speziell jüdischen
Tonkünstlern und Straßenmusikanten bzw. dem geselligen
Idealismus an sich gewidmet war, aber von Musik- und Hörbesessenen
aus aller Welt konsumiert werden sollte.
Zum
RUSSLAND-Bezug möchte ich sagen: Nachdem ich vor Jahren
entschieden habe, ANGIZIA-Alben an eigens kreierten
Geschichten zu orientieren, um diese mit adäquater Musik
zum Ausdruck zu bringen war auch klar, dass ich mich hier eher
Szenerien bzw. einem Rahmen bedienen werde, der mich MEHR als
WENIGER fasziniert. Die russische Geschichte - beruhend auf
all ihren Fakten und Zahlen – egal ob nun vor oder nach
der Oktoberrevolution - interessiert mich selbst eigentlich
genauso wenig wie „Chroniken“ und epochale Ereignisse
an sich, weil ich niemals mit historischen Büchern groß
werden wollte. Die Art der Berichterstattung („1711 eroberten
die...die Stadt etc.“) hat mich nie derlei gepackt, dass
ich - vom Lesen ergriffen - begann, Geschichtsbücher zu
sammeln. Diese Tatsache steht allerdings in keinem denkbaren
Widerspruch zu ANGIZIAs chronologisch aufgebauten
Werken, zumal diese ja nicht auf tatsächlich passierten
Dingen beruhen und prinzipiell „eine fingierte Handlung“
in die „Geschichte der jeweiligen Zeit“ interpretieren.
Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias
und 39 Jahre für den Leierkastenmann
sind und waren solche Geschichten, die „Schritt für
Schritt“ und primär der Reihe nach erzählt wurden,
um aber freilich nicht zu vergessen, was uns die Zeitgeschichte
in den Jahren 1900 bis 1940 vorgelegt hat. Bei 39
Jahre für den Leierkastenmann beispielsweise
sollte ein Stück präsentiert werden, das - auf Fakten
beruhend (und die Judenhetze war ein Fakt) - satirisch, persiflierend
und auf Grund einer ganz bestimmten Art und Weise, eine Geschichte
im Kriegsmilieu zu erzählen, idealistisch-weltverbessernd
wirkt. Diese Wirkung konnte ich aber nur erzeugen, indem ich
die Fakten der Weltkriegsgeschichte als chronologischen Rahmen
in epische Erinnerung rief. Dabei ging es aber nicht um einzelne
Jahreszahlen, sondern lediglich um einen grob abgesteckten Zeitrahmen,
der eine satirische Auseinandersetzung mit der fingierten Geschichten
rund um 4 jüdische Musikanten im so leidlichen Weltkriegsdilemma
zuließ.
„Russland“
und alles was ich selbst damit in Verbindung bringen wollte,
hat mich immer fasziniert. Die russische Kultur ist eine unverwechselbare;
sie ist einmalig, unveränderbar und tiefgehend (wenn man
das möchte). Ich habe über lange Zeit Bildmaterial
russischer Menschen, und dabei hauptsächlich Gesichter
gesammelt und daraufhin ein besonderes Faible dafür entwickelt,
das „Russische“, den „Russen“ und „russische
Kultur“ (wie EIN russisches Gesicht aus 100 Gesichtern)
überall herauszufiltern und wieder zu erkennen: Den russischen
Pianisten in der kolossalen Empfangshalle eines tunesischen
Hotels, einen Weißrussen auf der Tower Bridge beim lässigen
Spazierengehen, die fast frappanten Russischstudenten der Wiener
Hauptuni beim täglichen Bibliotheksbesuch, sämtliche
Aufschriften vermeintlich russischer Autoren in einer nach Buchtitel
sortierten Bibliothekskartei, russische Stummfilme (ohne Untertitel),
die russischen Akrobaten im Cirque du Soleil bei der Premieredarbietung
im Wiener Prater oder eben russische Violinisten auf Grund ihrer
so charakteristischen Spielweise. Die russische Literatur um
Gorki, Dostojewski, Tolstoi, Pasternak (und mögen es an
sich kitschige Verfilmungen wie „Doktor Schiwago“
sein) habe ich immer gelobt. In der Literatur gibt es eben bestimmte
Dinge, die ein Russe anders sagt, als z.B.: ein Chilene oder
Portugiese. Der russische Literat lässt sich fast als „angenehm
kühl, bewusst sozial und versteckt philosophisch“
pauschalisieren.
Nach
Die Kemenaten scharlachroter Lichter,
was an sich eine bewusst deutsche Geschichte im Barock-Genre
war, entschied ich, eine Russlandtrilogie - unter dem Fingerzeig
„Schaut, wir schildern bewegende Geschichten armer russischer
Leute“ – zu beginnen. ANGIZIA ist
bzw. war aber deswegen keine primär von russischer Klassik
oder Literatur beeinflusste Formation, weil wir prinzipiell
mit keinem Album typisch „russisch“ klangen. Weder
wollten noch taten wir das. Im Zusammenhang mit meinem Faible
für „Russland“ erwähne ich aber noch meine
Vorliebe für russische Komponisten wie Tschaikowski, Rachmaninow
oder Schostakowitsch. Außerdem lag mir seit jeher sehr
viel an literatur- wie sprachwissenschaftlichen Aspekten der
russischen Sprache.
Kurzum:
Mit 39 Jahre für den Leierkastenmann
haben wir die 1997 mit Das Tagebuch der Hanna Anikin
begonnene Russlandtrilogie (die Trilogie stützt sich dabei
ja einzig und allein auf den geografischen und im Einzelfall
von 39 Jahre... eben geschichtlichen
Rahmen unserer Werke) beendet. Möglich, dass ich künftig
- bei späteren Stücken - wieder auf eine Russland
verwandte Thematik zurückkomme. „Russland“
selbst wird dank der von mir genannten (und weiteren) Aspekten
nach wie vor vielen Filmen, Themen, Stücken und Romanen
als „Stimmungsgrundlage“ dienen – das wage
ich zu behaupten. Das Schöne an der Kunst bleibt ja, dass
sie die „Andersartigkeit“ bzw. den „unterschiedlichen
Umgang mit an sich starren Themen“ (die russische Kultur
bleibt ja die selbe, egal wer sich damit beschäftigt) toleriert.
Was mir für mein Leben lang auf Grund des für MICH
sicht- und erkennbaren russischen Temperaments „unzugänglich“
und „unmöglich“ scheint: Eine russische Liebesgeschichte
im Weltkinoformat.
Die
ANGIZIA-Trilogie „Arme Leute“ –
bestehend aus Das Tagebuch der Hanna Anikin,
Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias
und 39 Jahre für den Leierkastenmann –
befasst(e) sich grundsätzlich mit dem „seelisch verarmten“
Menschen in politisch schwieriger Zeit. Im Zuge meines Faibles
für russische wie jüdische Kultur entschied ich, RUSSLAND
als globalen Ort des Geschehens zu wählen. Soviel zum Konnex
ANGIZIAS mit der russischen und jüdischen
Kultur.
NH:
Welche sind eigentlich deine musikalischen Einflüsse?
MH: Ich
bin einerseits ein überaus kritischer Musikkonsument und
sauge auf der anderen Seite an sich alles auf, was mich fasziniert
und tiefgehend bewegt. Spezielle Einflüsse in ANGIZIA
kann ich aber schwer dingfest machen, weil ich famose
Beiträge immer ganzheitlich sehe oder oft nur unvorbereitet
oder eben spontan (während eines Filmes, im ARTE-Kulturprogramm
etc...) aufnehme. Ich fand aber (um ein Beispiel zu nennen)
den Hans Zimmer-Soundtrack für THE RING (der übrigens
nicht auf CD erschienen ist) über alles erhaben und habe
bei der Konsumtion des Films womöglich jede Cello-, Piano-
und Kontrabasssequenz bis zum Anschlag und Anstrich hin verzehrt
(als wären sie meine eigenen). Den Film an sich (übrigens
einer der besten der letzten 10 Jahre) und seine „Stimmung“
empfand ich als eine congeniale Verbeugung vor Mr. Doctor und
der Devil Doll-Kultur. Selten bzw. noch nie hat mich ein an
sich beiläufig und unterstützend gedachter Kompositionskomplex
derlei begeistert. Ähnlich erging es mir 9 Jahre zuvor,
beim Rezipieren des „SCHINDLERS LISTE“-Soundtracks
samt Virtuosentum Giora Feidmans (Klarinette) und Izhak Perlmanns
(Violine). Die für mich vollkommensten und mich auch am
meisten bewegendsten musikalischen Werke überhaupt stammen
von Devil Doll, Meret Becker und Dobrek Bistro. Zu meinen musikalischen
Vorlieben zähle ich außerdem Kurt Weill, Hanns Eisler,
Frederic Chopin, Cirque Du Soleil, Arcturus, Fantomas sowie
generell die jüdische Klezmer-Kultur und sprecherminimierte
Aufnahmen von Klaus Kinski, Andre Eisermann, Otto Sander und
Ben bzw. Meret Becker. Außerdem habe ich ein besonderes
Faible für außergewöhnliche Stimmen: Emiliana
Torrini, Björk, Mike Patton, Meret Becker, Nina Hagen,
Klaus Kinski, Garm, Mr. Doctor (Devil Doll), Otto Sander...
Ganze
Bands, Alben, Musiktheaterstücke oder Soundtracks haben
ANGIZIA sicherlich NICHT beeinflusst. Eigentlich
bringe ich/bringen wir mit meinen/unseren Stücken ja nur
zum Ausdruck, was mir und uns IMMANENT ist. Was in mir wohnt,
drücke ich auch aus.
NH: Was genau ist eigentlich mit Napalm Records passiert?
Ich habe vernommen, sie wollten euch auch in ihr Klischeebild
einrücken und als ihr euch geweigert habt, haben sie den
Vertrag gekündigt – was davon ist wahr? Habt ihr
mittlerweile schon ein neues Label im Visier, oder wird/wurde
alles selber finanziert?
MH: Gut,
man braucht sich da nichts vormachen. Rein prinzipiell haben
wir nie sehr gut zu dem gepasst, was Napalm vertreten hat bzw.
konvenierten unsere „Eigenheiten“ nie wirklich zum
Profil des Labels. Wir hätten uns (bezogen auf die grafische
und musikalische Gestaltung unserer Alben) auch niemals dem
trendgebundenen Wunsch irgendeiner Plattenfirma unterworfen,
nur damit in Folge dessen mehr CDs verkauft werden. Den so dramatischen
„Schmiss“ vom Label gab es nicht. Wir haben keinen
weiteren Vertrag unterschrieben und Napalm hat uns keinen vorgelegt.
Im Zusammenhang mit Das Schachbrett des Trommelbuben
Zacharias fand ich den Titel des Napalm-Ablegers
und Sublabels „Black Rose Productions“ einfach besser
als den Namen „Napalm/Records“, der uns ja schon
des öfteren (v. a. jetzt im Zusammenhang mit 39
Jahre für den Leierkastenmann in heikle Situation
brachte („Was hat das Wort Napalm denn mit Juden zu tun?
Oder besser: Was hat dieses Wort denn mit Juden NICHT zu tun?“).
„NAPALM“ klingt nun einmal nach „Zerstörung“,
ANGIZIA aber will nichts zerstören, sondern
innovative Musik betreiben. Sowohl Angizia als auch Napalm bewegen
sich immerhin in zwei absolut konträren Welten, obgleich
ich Napalm/Records seit jeher als hochprofessionelle Plattenfirma
verstanden habe. (Besonders würdigen möchte ich in
diesem Zusammenhang die Arbeit von Karl Kern – sein Einsatz
für das Label und vor allem für eigenständige,
NICHT austauschbare bzw. unkonventionelle österreichische
Musik des vorigen Jahrzehnts wie eben von Korova und
ANGIZIA war enorm. Gerade Musikschaffende wie Christof
Niederwieser und ich wissen das auch heute noch sehr zu schätzen.)
Zum
Leidwesen der Musikindustrie: Wahrscheinlich kooperiert meine
und unsere Vorstellung von Musik generell nicht mit musikwirtschaftlichen
Überlegungen. Zu sehen, dass manch vorsätzlich gesignter
und x-beliebiger bzw. jeder Zeit wieder „austauschbarer“
Einheitsbrei dem musikalischen Anspruch vieler Plattenfirmen
besser zu Gesicht steht als originell-avantgardistische und
in Folge dessen auch „eigenständige“ Formationen
wie eben ANGIZIA oder Devil Doll habe ich sowieso
nie verstanden bzw. bin ich eben der logischen und überzeugten
Meinung, dass das „Was verkauft sich wie und wodurch am
besten?“-Denken kohlegeiler Labels die Qualität des
Undergrounds zerstört (hat). Dieses Marketing-Konzept bewirkt
nämlich auf Dauer eine Vereinheitlichung der am Markt existenten
Bands und ließe sich bei zunehmender Uniformierung auf
einen erbärmlichen Zustand reduzieren, der nur mehr die
Kopie von der Kopie von der Kopie am Markt lässt. Als „nicht-duplizierbares“
Original bzw. als Verfechter origineller und trotzig-eigenständiger
Musik werde ich diesen Zustand so lange bekämpfen, wie
ich der Meinung bin, dass dieses Genre (noch) nicht vollkommen
verblödet ist. Ach so bemühte Plattenfirmen um geldbringende
Formationen vergessen nämlich, dass wir uns mit dem Reduzieren
auf einige wenige Bandprofile einem Status nähern, der
uns in der Literatur vor einigen Jahren die Trivialliteratur
und wahrscheinlich auch die gesteigerte Analphabetenrate beschert
hat. Damals waren sich alle einig, dass mit jedem „Bastei“-Heftchen
die Verblödung der Leserezipienten zunimmt. Wenn Musik
aber immer soweit vereinfacht und standardisiert wird, dass
diese Simplifizierung nur mehr der schnelllebigen Zeit von heute
Tribut zollen kann, so stellt sich doch die entscheidende Frage,
warum man sich zwar den Leseluxus eines Kafka-Textes oder eben
ein teures Gläschen Rotwein leisten will, sich aber im
selben Zuge „auditiv“ nicht mehr zutraut, als jene
banal designte Schmalspurmusik kaum qualitativ denkender Plattenfirmen.
Notgedrungen und aus diesen Gesichtspunkten heraus war das eigene
Label „Medium Theater“ für ANGIZIA
die beste Wahl überhaupt. Ich bereue nichts.
Ob
sich die überaus zufriedenstellende Zusammenarbeit mit
PROPHECY PRODUCTIONS im Zuge des Vertriebs von 39
Jahre für den Leierkastenmann bei unserem
nächsten Album intensivieren wird, kann ich noch nicht
genau sagen. Mehr dazu im Herbst 2003.
NH:
Könntest du dir vorstellen, dass einmal eines eurer visuell
gestalteten Stücke auch auf einer Theaterbühne von
Schauspielern vorgeführt wird? Welche Aspekte müssten
dabei unbedingt erfüllt werden?
MH: Nun,
es müssten dabei eigentlich ALLE Aspekte erfüllt werden.
Es geht nämlich wirklich nicht immer und ausschließlich
darum, interessante Ausdrucksformen um jeden Preis (und damit
gleichzeitig um jede Qualität) für sich zu gewinnen.
Eine ähnliche Problematik bedeutet die Umsetzung der ANGIZIA-Kultur
auf Konzertbühnen. Es gab dabei zumindest die Idee, ein
Konzert im minimalistischen Hörspielrahmen vorzubereiten,
um schlichtweg Perfektion zu garantieren. Pompöse Konzerte
gemäß den Höreindrücken unserer Alben würden
wohl überaus teuren Ton- und Lichttechnikern sowie fast
unbezahlbaren Proben im „Ensemble“-Gewand zum Opfer
fallen. Darüber hinaus habe ich selbst nie daran gedacht,
ANGIZIA-Stücke von irgendwelchen Schauspielern
umsetzen zu lassen. Es gäbe freilich hochinteressante Bühnengrößen,
Sprecher und Schauspieler, die diesem Vorhaben sehr viel geben
würden, ANGIZIA verstehe ich aber nach
wie vor als ein Gesamtkunstwerk, das sich aus heiklen Parametern
wie Epik, Musik und Malerei zusammensetzt und wahrscheinlich
auch nur von ganz bestimmten und nur wenigen Künstlern
optimal umsetzen lässt. Gerade unser derzeit in Arbeit
befindliches „Friedhofsstück“ mit all seinen
schaurig-schrägen Geschichten und zarten bis klirrenden
Klängen wäre wohl nur von ANGIZIA
selbst auf die Bühne zu bringen (um damit die so unkonventionelle
und für uns typische ANGIZIA-Kultur aufrecht
zu erhalten) und würde als Monodrama oder klassischer Einakter
im Volkstheater wohl kaum zu seiner Geltung kommen, auch wenn
sich durch die Darstellung renommierter Akteure ein größeres
Publikum finden ließe. ANGIZIA muss in
jeder denkbaren Ausweitung auf eine andere Ausdrucksform (Theater,
Film...) ANGIZIA bleiben. Alles andere wäre
eine Farce.
NH:
Plant ihr überhaupt, eure Stücke einmal live darzubringen?
Oder ist das aufgrund der zahlreichen Instrumente und Künstler
nicht möglich? Welche Voraussetzungen müßten
erfüllt sein, damit ihr die Bühne betretet? Mit welchen
anderen Bands würdet ihr dann eventuell gerne auftreten?
In welcher Location bzw. vor welchem Publikum würdest du
am liebsten spielen?
MH: ANGIZIA
auf die Bühne zu bringen ist eine bestimmt aufwendige und
auch sehr kostspielige Angelegenheit, obgleich wir Derartiges
im Idealfall auch in Erwägung ziehen würden. Grundsätzlich
denke ich dabei aber eher an Konzerte im schlichten, doch anmutigen
Hörspielrahmen (mit einer von der CD abweichenden Instrumentierung)
und nicht an pompöse und schwülstige Auftritte in
barocken Kostümen (sprich: Verkleidungen) und süßem
Kerzenschein. Angizia existiert seit dem Jahre 1995 als reger
Projektgedanke, der immerzu scharenweise Musiker und Sänger
in das jeweilige Stück einbindet. Die Tatsache, dass etliche
ANGIZIA-Künstler auch sehr viel beruflich
musizieren, stellt uns zudem immer wieder vor terminliche Probleme.
Ferner ist der Umstand, dass nahezu 100% unserer Musiker beruflich
an ihr Instrument gebunden sind, immer auch mit Kosten verbunden,
was gerade dem „so abenteuerlichen“ Underground
ein schrecklicher Dorn im Auge ist. Ich schließe ANGIZIA-Konzerte
gewiss nicht aus, möchte diese aber auch nicht definitiv
versprechen, auch wenn ich sagen muss, dass ein ANGIZIA-Abend
dem interessierten Veranstalter doch die eine oder andere Münze
wert sein sollte. Unkompliziert wären diese Konzerte jedenfalls
nicht.
Meist
bin ich selbst immer zu sehr an neuen Projekten beschäftigt,
um die grundsätzlich interessante Idee einer konzertanten
Darbietung ANGIZIAS weiter oder gar zu Ende
zu denken. Könnte ich mir ANGIZIAs Mitstreiter
für einen Konzertabend aussuchen, so wären das wohl
Devil Doll und Meret Becker. Es gibt gewiss Dutzende Locations
(Theatersäle, Spiegelzelte etc.), die für ANGIZIA-Konzerte
geeignet wären. Wie jeder Vertreter der „ernsten
Musik“ würde ich gerne vor einem bestuhlten und bewusst
tiefsinnigen Publikum spielen.
NH:
Was hältst du eigentlich von der Metal-Szene?
MH: Ehrlich
gesagt gar nichts. Ich finde einige Outputs weniger wirklich
famoser und progressiver Bands (Dornenreich, Fantomas, Arcturus...)
ganz gut, die „Szene des METALS“ an sich interpretiere
ich aber nach wie vor oder gerade jetzt eher verwerflich und
gehaltlos. ANGIZIA hat in dieser „Szene“
nie einen Platz gesucht. Ich weiß aber, dass immer wieder
aktive Metal-Rezipienten ein großes Herz für unsere
Musik zeigen. Das freut mich ungemein, ändert aber prinzipiell
nichts an meiner Meinung über die aktuelle „Metal-Szene“.
Heute prostituiert sich der Metal zweifelsohne als kapitalgeiler
und ideenloser „Copyshop“ elitärer Metalformationen
und reduziert den „Metaller“ mehr und mehr quasi
selbstsprechend auf ein plumpes und einfältiges musikalisches
Erscheinungsbild. Ich liebe progressive und avantgardistische
Ausdrucksformen, der METAL und der tiefe Kern der „Metal-Szene“
mit all seinen Allüren und Ergüssen hingegen erscheint
mir klotzig, teilweise rückschrittlich oder eben bestenfalls
stagniert.
NH:
Wenn du mal nicht gerade an einem neuen Angizia-Stück werkelst...für
welche Kunstarten interessierst du dich sonst noch?
MH: Als
begeisterter Cineast fröne ich vor allem der „Kunstform“
Film, aber niemals dem Action- und Kommerzfilm-Format. Darüber
hinaus habe ich ein Faible für Exzentrik, (Zirkus-, Musik-...)
Avantgarde, Theater und Biografien. Im Zusammenhang mit Literatur
und Wissenschaft beschäftige ich mich vorwiegend mit Werken
von Peter Handke, Elfriede Jelinek, Frank Kafka, Elias Canetti
, Bert Brecht, Klaus Kinski und Neil Postman. Ferner hege ich
großes Interesse am epischen Theater, am Musiktheater
und an der jüdischen wie auch russischen Musikkultur (Klezmer,...)
und bereise als „Quasi-Kosmopolit“ immer wieder
„kunstspendende“ europäische Metropolen. Abseits
von Musik und Literatur liegt mir sehr viel an Geisteswissenschaften
wie Pädagogik, Soziologie, Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft,
Medienwissenschaft und Politologie.
NH:
Eure Alben werden von Gemälden der Künstlerin Gabriele
Böck verfeinert. Wie wird dabei vorgegangen – malt
sie die Bilder, inspiriert von eurer Musik oder gebt ihr Vorlagen
vor? Wie wichtig ist es für dich, dass der Gesamteindruck
auch bildlich umgesetzt wird? Da ich gelesen habe, dass die
Gemälde unverkäuflich sind – wo befinden sie
sich?
MH: Ein
Stück wie 39 Jahre für den Leierkastenmann
lebt weder von geldbringender Plakativität noch von der
Hochstilisierung eines vorgetäuschten Konzeptes, sondern
ist vielmehr ein gründlich überlegtes und dramatisch
ausgefeiltes Gesamtwerk, das sich aus den Komponenten "Epik",
"Musik" und "Malerei" zusammensetzt. Eines
dieser Elemente auszublenden würde bedeuten, dass das künstlerische
Netzwerk „Angizia“ als Gesamtwerk geschwächt
oder unvollendet ist.
Man
darf sich den "künstlerischen Prozess" bei ANGIZIA
so vorstellen: Noch bevor ein Ton mit einem anderen in Verbindung
gebracht wird, existiert einmal der grob skizzierte Handlungsbogen
einer Geschichte, der kurze Zeit später musikalisch-schöpferisch
und musisch-feinsinnig zum Ausdruck gebracht wird. Diese vorab
notierte Geschichte zeigt sich zunächst "skizziert"
in Dokumenten auf meiner Festplatte, in meinem Kopf oder vor
sich hin gekritzelt auf vielen losen Blättern (in einer
wie ich meine für andere nicht wirklich leserlichen Schrift).
Die Epik in ANGIZIA ist daher programmatisch,
weil sie vorsätzlich ist, und KEINE plakative Begleiterscheinung,
um der Musik nachträglich ein lyrisches Bild zu geben.
Sie allein gibt unserer Musik und darüber hinaus der visuellen
Kunst überhaupt Anlass zu existieren. Sie legitimiert die
ANGIZIA-Alben als Konzeptwerke und motiviert
eine "visuell"-anschauliche Vertonung der Geschichte.
In einer zweiten Phase entstehen zunächst musikalische
Fragmente zu der chronologisch bereits vorgefassten Geschichte.
Mit dem Ausformulieren der dramatischen Form (in unterschiedlichen
Bereichen der Essayistik) wird schließlich auch die Tondichtung
konkretisiert. Sie verschmilzt mit dem Stück und mit ihr
die malerische Interpretation der Geschichte, die in einer dritten
Phase - analog zur Feinarbeit an den Komponenten "Epik",
"Lyrik" und "Musik" - zum illustrativen
Rahmen der Epik bzw. des Stückes wird. Die einzelnen Bilder
entstehen dabei auf recht unterschiedliche Art und Weise. Einerseits
gebe ich gewünschte Motive und Themen vor, die Gabriele
Böck dann umsetzt. Andererseits interpretiert sie auch
immer wieder eigene Gedanken und Eindrücke, die sie beim
Lesen meiner Epik/meiner Lyrik oder auch beim Anhören des
jeweiligen Stücks für sich gewinnt. Viele Bilder enstehen
auch als Resultat der „Ideen-Achse“ Michael Haas/Gabriele
Böck/Irene Denner“ oder aus dem kreativen Gespann
„Irene Denner/Gabriele Böck“.
Schlussendlich
lebt die so richtunggebende Epik a)sowohl als isolierte essayistische
Form (als Stück, als Novelle,...), b)als musikalisch-schöpferische
Vertonung und c)als bildlich veranschaulichte Geschichte (zur
Vergegenwärtigung der stückbezogenen Figuren und Motive).
Es ist auch ein (in der Tat) psychologisches Faktum, dass ein
Kunst- oder Gesamtwerk umso intensiver wirkt, je mehr künstlerische
Ebenen dafür in Anspruch genommen werden. Die Frage nach
dem Ausblenden EINER dieser drei künstlerischen Bereiche
in ANGIZIA stellt sich bewusst nicht.
Sämtliche
Bilder, die Gabriele Böck für ANGIZIA
gefertigt hat, sind IHR Eigentum und (wie du schon richtig bemerkt
hast) unverkäuflich. Allerdings besteht die Möglichkeit,
die Motive von Das Schachbrett des Trommelbuben
Zacharias und 39 Jahre für den Leierkastenmann
in Form von „Kunstdrucken“ in unterschiedlichen
Formaten direkt über ANGIZIA zu erwerben.
NH:
Da es bei euch anscheinend höchste Priorität hat,
ein Gesamtkunstwerk zu präsentieren, würde mich interessieren,
was ihr zum neuesten „Trend“ sagt, Musik aus dem
Internet herunterzuladen, um sie womöglich nachher auch
noch auf CD zu brennen. Ist dies die Zerstörung der Kunst
und der Musikszene, oder siehst du es eher als Horizonterweiterung
an?
MH: ANGIZIA-MP3s
sind ohnehin rar und – in irgendeiner Form aus dem Internet
gezogen – nur mehr Abbild der Wirklichkeit und damit prinzipiell
wertlose Raubkopien, die mit dem eigentlichen Zauber ANGIZIAs
und einem plausiblen „Gesamtkunstwerk“ nichts mehr
zu tun haben bzw. eher dafür gedacht sein sollten, „auf
das gesamte Album aufmerksam zu machen“. Nicht mehr und
nicht weniger. Ich selbst habe das Internet immer nur zur künstlerischen
„Horizonterweiterung“ genützt und jede mir
wertvolle CD mit gerne ausgelegtem Geld gekauft. Andererseits
weiß ich, dass etwa in Ländern wie Panama, Mexico,
Brasilien, Israel, Jordanien oder Bolivien Angizia-Sympathisanten
aus sozialen und finanziellen Gründen nur per AUDIO GALAXY
Zugang zu unserer Musik finden können, andererseits aber
auch etwa Vertriebe in südamerikanischen Gefilden wirtschaftlich
äußerst unzuverlässig sind, sodass weder wir
noch PROPHECY PRODUCTIONS in irgendeiner Form mit diesen kooperieren
können. Es gibt immer wieder Fetischisten, die sich um
ihren Wochenlohn eine Digipack-CD über unseren Mailorder
bestellen, andererseits bleiben aber für viele vor allem
mittellose ANGIZIA-Enthusiasten auch nur Downloads
als einzig denkbare auditive Alternative zum sonst verfügbaren
„Gesamtkunstwerk“ (bestehend aus Epik, Musik und
Malerei). Dass heute Kollegen wie z.B.: Oswald Henke von Goethes
Erben den wirtschaftlich so sehr unangenehmen Beigeschmack der
MP3-Kultur bejammern, kann ich voll und ganz nachvollziehen,
auch wenn Bands wie ANGIZIA oder eben Goethes
Erben noch eher mit der „Verpackung“ der eigenen
Werke (Digipack, limited edition...) in Verbindung gebracht
werden wollen als andere CD-Veröffentlicher. Und ehrlich
gesagt: „Was hat man denn mit einer voll bepackten MP3-CD
schon in der Hand? MP3-s, mehr nicht. Lieber mühsam ersparte
Originale genießen, als eine von Shit und Kram überzogene
Plagiatsammlung ohne Aura, auf Hunderten CDs abgelegt und nichtssagend
festgehalten. Wer originelle Musik liebt, muss diese schon unterstützen,
um zu verhindern, dass einige Bands künftig von der Musikoberfläche
verschwinden (und daher auch im MP3-Format nicht mehr erhältlich
sind).
NH:
Gibt es noch irgendetwas, das dir auf der Zunge brennt und daß
du gerne loswerden möchtest?
MH: Das
fünfte ANGIZIA-Album ist bereits in Arbeit
und erscheint voraussichtlich im nächsten Jahr. Danke für
das interessante Interview und entschuldige meine eher „langfristige“
Auseinandersetzung.