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Dass Österreich in musikalischer Hinsicht einige Perlen aufzuweisen hat dürfte dem Musikkonsumenten zwar klar sein, allerdings gibt es hierbei auch Bands, die meines Erachtens mehr Zuspruch verdient hätten und zu denen gehört unabstreitbar das Kollektiv ANGIZIA. Um nähere Einblicke auf das künstlerische Schaffen der Truppe zu erhalten baten Mephisto und Dunja Protagonist Michael Haas um Rede und Antwort. Und weil gut Ding Weile braucht, zogen etliche Monate ins Land, bevor dieser unsere Fragen ausführlichst (!) beantwortete...

Nocturnal Hall: 6 Jahre sind nun vergangen, seit ihr euer Debütalbum Die Kemenaten scharlachroter Lichter veröffentlicht habt – seither ist viel Wasser die Donau hinuntergeflossen und seither hat sich bei ANGIZIA sowohl von der Besetzung her als auch musikalisch einiges getan – wie siehst du Die Kemenaten... heute?

Michael Haas: Die Kemenaten scharlachroter Lichter ist ein ganz eigenartiges Stück Musik - ein Album, das ich immer noch hochrangig schätze, eines das gleichermaßen provoziert und ANGIZIA in eine eigene Schublade gesperrt hat und eines, das wahrscheinlich auch ANGIZIA selbst heute nicht mehr auf diese Art und Weise reproduzieren könnte. All die Faktoren, die dieses Album ermöglicht haben und schlussendlich zum richtigen Zeitpunkt Harmonie fanden, sind sehr originell und schenkten uns ein fanatisches Publikum auf der einen und perplexe Kritiker auf der anderen Seite der Musikströmung. Die Kemenaten scharlachroter Lichter war ein bewusst barock gehaltenes Musiktheaterstück mit sowohl literarisch und sprachlich als auch musikalisch komplexen und schwülstigen Elementen. Wir hatten dabei wirklich in keinem Moment daran gedacht, ANGIZIA massentauglich oder die Pianoarbeit selbst konsumfreundlich zu machen. Das an sich charakteristische Konglomerat des Stücks -bestehend aus vielschichtigen Stimmen, klassischen Instrumenten, Rock-, Metal- und Barockeinflüssen - hat ANGIZIA aber schon damals in eine ureigene Musikschicht getragen und somit von Anfang verhindert, sowohl Die Kemenaten scharlachroter Lichter als auch ANGIZIA mit „Gewöhnlichem“, „Standardisiertem“ und „Konventionellem“ in Verbindung zu bringen. Dieses Album hatte sehr viele Ecken und Kanten, erreichte einige Glasvitrinen und wurde gleichermaßen von Hörern verpönt, die mit dem Vielerlei an Information und der befremdenden Art und Weise, komplexe klassische Strukturen mit extravertierten Gesängen und bis dato ungewöhnlichen musikalischen Elementen zu kombinieren, nicht umgehen konnten (und wollten). Viele ANGIZIA-Fans lieben das Stück ob seiner „individuellen Synthese“ aus verschiedensten musikalischen Genres. Heute ist das Album faktisch ausverkauft, weil jenes Kontingent, das Napalm/Records damals vor Augen hatte, erschöpft ist und die CD nicht wieder aufgelegt wird. Auch wenn sich ANGIZIA heute schlichtweg „anders“ präsentiert als damals (1997) – Die Kemenaten scharlachroter Lichter (1997) war ein apartes und unvergleichliches Stück „Musik“.

NH: Wie hat sich die Person Michael Haas mit den Jahren verändert? Gehst du heute anders daran, wenn es darum geht, eine neue Platte zu machen?
MH:
Nun, ich bin und bleibe Idealist, fröne avantgardistischer Musik und liebe den künstlerischen Wahnwitz. Mein Perfektionismus erschwert mir mittlerweile die konkrete Arbeit an einem kurzfristig voraus zu planenden Album und macht mich zu einem künstlerisch progressiv denkenden Menschen und zeitlosen Konzeptionisten. Das „Genre“, in dem ANGIZIA bislang präsent war, enttäuscht und ermüdet mich immer mehr, ja gibt mir kaum mehr Anlass, darin existieren zu wollen. ANGIZIA selbst mutierte über die vielen Jahre hinweg zum bockigen Einsiedler einer mittlerweile dunkelgrauen Musiklandschaft und existiert heute quasi für den Wahnwitz allein. Um dir eine seriöse Antwort auf diese Frage zu liefern, sei dir gesagt: Ich sehe mich nicht in der Verpflichtung, Musik für andere oder ganz bestimmte Ohren zu betreiben, meine musikalischen Marotten in eine globale Welt zu tragen oder diese bzw. ANGIZIA selbst immer wieder transparent genug zu machen, nur um sich damit populistisch oder opportunistisch zu assimilieren.

Als Künstler bleibe ich mir treu: „Ein Schwimmer gegen den Strom“ – „...das Schaukelkind im Keller der Musikwirtschaft“ und der „bunte Vogel in einem verseuchten Dunstkreis.“

Heute nähere ich mich neuen Projekten grundsätzlich gelassener als früher - das entstandene musikalische „Profitum“ auf Grund der vielen professionellern Musiker, die absolute Perfektion beim Umsetzen von Konzepten, Stücken und einzelnen Ideen auf Grund der gediegenen Harmonie innerhalb des Projektkerns und die innere Ruhe aus den vielen gewonnenen Erfahrungen heraus lassen mich vor jedem Projekt zuversichtlich sein, ein weiteres (und für mich besonderes), ja schlussendlich zufriedenstellendes Gesamtkunstwerk zu kreieren. Darüber hinaus liebe ich die emsige, so sehr ausgedehnte, ja schlichtweg langfristige Arbeit an EINEM einzigen Konzept und EINEM tiefsinnigen Stück, die freilich wiederum gewährleistet, dass das künstlerische Resultat schlussendlich auch entspricht. Dieses entsteht - nach wie vor - eher wirtschaftlich kompromisslos, ohne Ehrfurcht vor roten oder schwarzen Zahlen und sehr wohl mit Bedacht auf einen generell „schlampig und oberflächlich gewordenen musikalischen Zeitgeist des Undergrounds“. ANGIZIA existiert quasi für sich allein, und das so lange ich Lust, Zeit und Geld dafür haben will.

Was ANGIZIA-Werke (nach wie vor) interessant und ausgeklügelt macht, ist die Tatsache, dass dem Projekt schlichtweg Künstler beiwohnen, die mit ihrer enormen Professionalität und einer andererseits bewundernswerten idealistischen Einstellung wesentlich dazu beitragen, dass sich „dieses trotzige und so sehr unkonventionelle Musikgeschöpf“ nicht für immer in eine dunkle Höhle zurückzieht. Deswegen denke ich, dass ich ANGIZIA ohne die künstlerisch wertvolle Interaktion und so verlässliche Zusammenarbeit mit Künstlern wie Irene Denner, Jochen Stock oder Emmerich Haimer NICHT pflichtbewusst am Leben erhalten würde.

NH: In eurem neuem Werk geht es ja quasi um Spielleute, die ja heute wie damals (zeitlich bezogen auf die Zeit in der 39 Jahre für den Leierkastenmann spielt) ein gewisses Außenseiterdasein fristen – klar gibt es „Künstler“ die von der Öffentlichkeit respektiert werden und die brauchen sich um ihren Lohn auch keine Sorgen machen...ist es nicht manchmal frustrierend zuzusehen wie andere für viel weniger Arbeit viel mehr Ruhm und Geld kassieren?
M H:
Du sagst es. Ich habe im Laufe der Jahre alle so sehr offenkundigen und plumpen Trends der 90er miterlebt und dabei auch so viele „Pseudophänomene“ kopfschüttelnd, aber auch schmunzelnd hingenommen. Der Planet „Erde“ verblödet leider zunehmend. Das begann irgendwo in der Literatur, setzte sich mit Dutzenden Simplifizierungen fort und endete eben (scheinbar) in der U-Musik, beruhigt mich aber insofern, da wir dieser „Verblödung“ und „Simplifizierung“ als Vertreter der „ernsten“ Musik immer schon aus dem Weg gegangen sind. Dass viele und immer mehr Bands und Künstler (deren Name wohl jeder kennt) mit NULL Aufwand und einer nahezu vorwurfsvoll schlampigen und ungemein oberflächlichen künstlerischen Auseinandersetzung in ohnehin peinlich gewordenen Genres wie der „Schlagerszene“, der „Black Metal-Szene“ oder der „Gothic-Metal-Kiste“ Platz fanden oder immer noch finden wollen, zeigt wohl auch, dass diese zunehmend „stinkenden“ Auffangbecken schon seit Jahren viel zu groß sind und das „Maß aller Dinge“ in jeglichen Genres schon dermaßen oft kopiert wurde, dass man die wahren Originale gar nicht mehr findet.

Aber das ist nicht nur in der Musik so – gleiches gilt für den Film oder die Literatur. Ich selbst habe wirklich kein Problem damit, wenn ein peinlicher Schlagerstar damit leben kann, reich aber eben peinlich zu sein. Und wenn er sich dessen nicht bewusst ist, so gönne ich ihm das auch. Der komplette „Banal-Hype“ im kommerziellen Musikgeschäft samt der so mächtigen Plattenindustrie als „der große PLAGIATOR“ schwemmt die Ohren der „Durchschnittsbürger und -hörer“ förmlich in den Kanal – ja lässt die Leute Schwachsinn lallen, in gesammelten Massen vor aufgeputzten Bühnen zum Playback jener CD hüpfen, die sie ohnehin zu Hause haben und zeigt auf, mit welch niedrigen und oberflächlichen Mitteln „der Mensch“ als solcher zu beeindrucken ist. Dass wahre Qualität ganz woanders schlummert, Termini wie „gut“ und „schlecht“ in dieser musikalischen „Scheinwelt“ quasi verkehrt rum existieren und aussagelose „Künstler“ am großen Eurokuchen mitnaschen dürfen, ist zwar ärgerlich, mir aber mittlerweile über alle Berge hinaus egal. Ich erlebe immer wieder kopfschüttelnd, welch geringen Anspruch unzählige Menschen an ihr eigenes Leben stellen - mit welch oberflächlicher „Ware“ sie sich grundsätzlich zufrieden geben, ja welch „tiefe“ Filmkost auf der Bestsellerliste der heimischen Kinos steht, welche Pointen diese Leute im Werbeteil einer Kinovorstellung versäumen und zu welchen schnöden Szenen sie händeklatschend „Den Film gib i ma!“ schreien, ja welch interessante Strategien und Abwehrmechanismen sie jenen Kulturprodukten entgegen bringen, die sie auf Grund des phänomenalen „Massenverblödungseffektes“ oder ihrer seichten Persönlichkeit gar nicht verstehen.

In der weiten Musiklandschaft wie auch im Filmsektor oder der Belletristik gibt es grundsätzlich nichts Schlimmeres auf dieser Welt als die Tatsache NUR „mittelmäßig“ zu sein, weil man mit der Vielzahl der auf diese Art und Weise erzeugten „Ergüssen“ einen von zu vielen Menschen ernst genommenen „Standard“ festschreibt. Immerhin: Es gibt unzählige „mittelmäßige Bands“, „mittelmäßige Konzepte“, „mittelmäßige Bücher“, „mittelmäßige Filme“, „mittelmäßigen Perfektionismus“, eine „mittelmäßige künstlerische Auseinandersetzung“ und „mittelmäßige CDs“. Wer das merkt ist KÖNIG – wer nicht einer der vielen „Blödmänner“ im Wirtschaftsdenken der Musik-, Film- und Literaturindustrie.

Freilich weiß ich, dass ich dem „Idealismus“ in meinen Stücken immerzu protagonistisch und aufwertend begegnen werde und „Geld“ und „Kommerz“ für mich schlichtweg und oft genug unsympathische Verlockungen für den künstlerischen Gehalt eines Produktes sind, jedoch gibt es ganz bestimmt auch immer wieder hervorragende Künstler, die von der Öffentlichkeit respektiert werden und auf ihre ureigene – vielleicht ja kommerziell wertvolle Art – etwas „kompromissloses Besonderes“ kreieren. Zu sagen, dass jegliche Qualität nur unter niedrigen Verkaufszahlen und „faktisch zu originellen Ideen für eine oberflächlich gewordene Gesellschaft“ begraben liegt, wäre sicherlich falsch. Es gibt viele Künstler in allen denkbaren Genres, die ich überaus genial und unikal finde und denen ich deren Erfolg auch in jenem finanziellen Ausmaß gönne, der ihre für mich wichtige Kontinuität gewährleistet. Unbestritten bleibt nämlich, dass es auch in teils belächelten Genres wie der POPMUSIK außergewöhnliche Künstler und Bands gibt, die in Einzelfällen ja gerade deshalb, weil sie „außergewöhnlich“ sind, derlei beklatscht werden. Einem Robbie Williams etwa gönne ich alles – der ist ohne Zweifel ein besonderes „Original mit schräger Ausstrahlung“ und wie ich meiner der größte Popkünstler der Gegenwart sowie der letzten 20 Jahre.

Musik der kommerziell gesinnten „Highways“ des UNDERGROUNDS ist aber leider oft genug so durchsichtig, so offenkundig transparent, so geringfügig entdeckenswert, dass sich der manipulierte Konsument derartiger Musik gar nicht zu wundern braucht, wenn ihm dadurch das aktive Hörerlebnis ausbleibt. Denn: „Was, bitte schön, soll es in einem bloß gelegten Tondokument für einen an sich interessierten Hörer noch zu entdecken geben?“ Im breiten Underground haben sich leider jene Produkte durchgesetzt, die sich – unabhängig von ihrer Qualität - gut vermarkten lassen.

Aus dieser Sicht bzw. „Nicht-Sicht“ der Dinge habe ich ANGIZIA 1994 ins Leben gerufen und als trotziges „Musikgeschöpf“ ABSEITS der schnöden Kompromissarbeit zwischen wirtschaftlich „gelenkten“ Künstlern und geldgeilen Plattenfirmen existieren lassen. Dass manche Labels (ich behalte deren Namen im Kopf) wohl ihr Leben lang nicht kapieren werden, dass vor allem im Underground und in der „Metal-Szene“ hohe Verkaufszahlen so ganz und gar nichts über die Qualität einer Band, einer CD, einer Produktion aussagen müssen, und selbst die gehypten Kritiken all jener Magazine, die als „richtungweisend“ gelten, oft genug Resultat einer solidarischen Überreaktion sind, finde ich schwach, prinzipiell aber leider typisch und für den Gehalt des „Genres“ selbst äußerst schade.

Ich hätte es mit ANGIZIA gewiss auch in der Hand gehabt, dieser ureigenen und eigentlich „augenzwinkernden Welt“ anzugehören, ja hätte alleine auf Grund der Professionalität der Musiker und dem ohnehin logischen, so klar vorgezeichneten Profil von „sich gut verkaufender Musik“ in allen denkbaren Gassen jederzeit auch Alben für die Massen entwerfen können, die den auf Oberflächlichkeit ausgerichteten Geschmack der „besten Käuferschicht“ durchaus befriedigen würden. ANGIZIA aber hat sich mit seiner Exzentrik wohlwollend in eine eigene Welt gehievt und ist stolz darauf, etwas Besonderes und nicht „die Kopie der Kopie der Kopie“ zu sein. Beides – EXZENTRIK und WIRSCHAFTLICHEN ERFOLG - zu erreichen wäre mit jener ANGIZIA-typischen Art und Weise, sich künstlerisch auszudrücken unmöglich. Lieber „eigenständige Kunst“ für ein kleines, selektiertes und tiefsinniges Publikum betreiben als Fischfutter für die Massen zu sein!“

NH: Auf 39 Jahre für den Leierkastenmann wird zwar eine Vielzahl an Instrumenten eingesetzt, jedoch fehlt der namensgebende Leierkasten – warum das?
MH:
Den Leierkasten als „Pseudoprotagonisten“ habe ich aus dem musikalischen Konzept gedrängt, weil ich ihn nicht thematisch ausreizen wollte und den Titel des Stücks (39 Jahre für den Leierkastenmann) eher als redundantes, aber sehr wohl gezieltes Beiwerk verstand als einen „Wort für Wort“ umzusetzenden musikalischen Plot. Dabei trenne ich die Figur des „Leierkastenmannes“ ganz klar vom Mysterium des „Leierkastens“ selbst. Und das ist ja der entscheidende Punkt: Der Leierkastenmann als theatrale Figur ist essentiell, nicht sein Instrument, der „Leierkasten“. Für mich war maßgebend, wie ein Leierkastenmann in der musikalischen Welt ANGIZIAs atmen kann. Unter diesem Aspekt ist der Titel dieses ANGIZIA-Stücks noch wertvoller. Zudem erschien es mir weitgehend spannender, den Leierkasten selbst eher „auratisch“ zu betrachten, ihn im musikalischen Konzept nur anzudeuten und damit eine weit mystischere Landschaft zu kredenzen. Das war auch der Grund, warum wir nicht den famosen österreichischen Werkelmann Oliver Maar engagierten, sondern den Polen Krzysztof Dobrek als vielleicht besten Akkordeonisten Europas. Seine „kosmopolitische“ Spielkunst ermöglichte uns den Spannungsbogen aus unserem ursprünglich bedachten Genre hinaus zu tragen und Angizia selbst im selben Ausmaß unikaler und noch weniger „schubladisierbar“ zu machen.

Darüber hinaus legte ich bei diesem Album Priorität auf die Symbiose aus wehmütiger Tragik und zirkustauglicher Komik, was wir mit Instrumenten wie Piano, Cello und Violine auf der einen, aber Akkordeon, Klarinette, Tuba und Posaune auf der anderen Seite auch geschafft haben. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass der „Leierkasten“ keineswegs ein beliebig einsetzbares Instrument ist, das man quasi improvisatorisch wie eine Violine, eine Klarinette oder ein Akkordeon jederzeit und überall einsetzen kann. Da wir aber in ANGIZIA zu immer „freieren“ und „offeneren“ Schemen tendieren, schließe ich nicht aus, im Nachfolgestück von 39 Jahre für den Leierkastenmann sporadisch auf den Klang eines Leierkastens zu setzen.

NH: Das Klavier ist ja im Gegensatz zu Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias doch vermehrt in den Hintergrund gerückt – war dies ein notwendiger Schritt, um auch für die anderen Instrumente Platz zu lassen?
MH:
Kann man so verstehen, ja. Ich hatte auch keine Lust mehr, ständig nur mehr auf das Piano reduziert zu werden. Für die groteske Theatralik des Stücks und die unterschiedlichen musikalischen Temperamente war es ohnehin von Nöten in das musikalische Konzept viele eigenwillige, extreme und dem vokalen Wahnwitz entsprechende Instrumente zu involvieren. Außerdem schafften wir somit eine unmittelbare Nähe zur Epik des Stücks. Im aktuellen ANGIZIA-Konzept hat das Klavier dramaturgisch bedingt aber wieder mehr zu seiner Hauptrolle gefunden.

NH: Wer ist die Person des Elias Hohlberg? Eine fiktive Figur oder eine Abbildung deiner Persönlichkeit?
MH:
Ein ANGIZIA-Stück ist immer so angelegt, dass das Wesen bzw. die Hauptfigur des Stücks in (s)einer fiktiven Welt äußerst "realistisch", wenn auch bewusst überzeichnet wirkt. Ich selbst habe dabei keineswegs das Bestreben, die Figuren der ANGIZIA-Stücke mit meiner eigenen Person in Einklang zu bringen, obgleich es für mich klarerweise ein Einfaches ist, die Hauptfigur meiner Stücke in der Vertonung stimmlich zu beseelen, da ich ja schon beim Schreiben der Geschichte mit dem Protagonisten des jeweiligen Stücks verschmelze. Elias Hohlberg als Hauptfigur von 39 Jahre für den Leierkastenmann beispielsweise hat vielmehr Modell- und Paradigmencharakter für den "idealistischen Menschen" und explizit für den "jüdischen Idealisten im 2. Weltkrieg" als er Teil von mir selbst ist. Die Geschichte rund um einen jüdischen Spielmann, der dem Krieg ein dreistes Ständchen singt, habe ich so verfasst, dass sie retrospektiv weltverbessernd wirkt. 39 Jahre für den Leierkastenmann gleicht meiner Vorstellung einer optimierten Weltkriegsgeschichte, die neben der Diffamierung der Soldatenleistung bzw. einer absoluten zynisch-satirischen Haltung des Stücks vor allem ein aufsässiges Antiheldentum und tollkühne, ja bewusst übermütige Musikanten ins Leben ruft.

ANGIZIA ist deswegen aber keineswegs eine primär politische Formation. Das zu Grunde liegende Wesen der einzelne Stücke, u. a. eben meine projüdische Haltung im Zusammenhang mit dem Weltkriegsszenario bei 39 Jahre für den Leierkastenmann, ist im Einzelfall stückmotiviert. Elias Hohlberg ist somit eine fiktive und moralisch wertvolle Figur, und nicht Abbild meiner Persönlichkeit. Dass Literaten, Essayisten, Novellisten und generell Verfasser schriftlicher Texte ihre Stücke, Novellen, Romane etc. oft genug in der Rolle des Protagonisten schreiben und quasi mit der Seele „ihrer geliebte Hauptfigur“ in ihrer ihnen so vertraut gewordenen literarischen Welt weiter leben, scheint ein oft ausgesprochener und plausibler Gedanke zu sein – die Tatsache, dass man als betreffender Künstler in der Position wäre, durch die Figuren seines Stücks mit eigenen Anschauungen, Haltungen etc. zu wirken, ist freilich mehr als nur verlockend.

NH: Die Vorbereitungen für 39 Jahre für den Leierkastenmann haben ja über 2 Jahre gedauert – wie verlief der Entstehungsprozeß? Nach welchen Kriterien wurden die Musiker ausgesucht und inwieweit sind sie in den Prozess involviert?
MH:
Bei ANGIZIA existiert immer zuerst die KÜNSTLERISCHE IDEE und dann das eigens für diese Idee verfasste Stück, das zur Grundlage einer unkonventionellen Musiktheaterarbeit mutieren soll. Erst aus der Quintessenz unserer Kompositionsarbeit heraus entwickle ich konkrete Vorstellungen, welche Musiker das gegenwärtige Konzept wohl am besten umsetzen können. Klar - das einzig denkbare und logische Kriterium in ANGIZIA ist es, intelligente und perfekte Musiker zu finden, die einem schrägen Musikprojekt wie 39 Jahre für den Leierkastenmann auf Grund ihrer Liebe zu „freier, lebendiger und extremer Musik“ beitreten wollen. Das Kollektiv von 39 Jahre... war derlei hochwertig, dass es – von kleinen Ausnahmen einmal abgesehen – künstlerische Kontinuität finden wird. Das geht auch aus dem Umstand hervor, dass die aktuellen ANGIZIA-Musiker äußerst vielseitig und daher für mich auch konzeptübergreifend einsetzbar sind. Gerade professionelle Künstler und Musiker bieten ANGIZIA umgekehrt freilich auch viele, eigentlich quasi unbeschränkte Möglichkeiten, um das auszudrücken und umzusetzen, was ich mir unter einem Stück wie 39 Jahre für den Leierkastenmann vorstelle. Andererseits unterscheide ich bei ANGIZIA immerzu auch zwischen Künstlern, die das Projekt prägen und jenen, die prinzipiell austauschbar wären. Fakt ist, dass ein professioneller Instrumentalist von mir idealisierte musikalische Sequenzen weit besser umsetzen und ausdrücken kann als ein Hobbymusiker der Kategorie „Wenn ich übe, kann ich das schon!“ Das wird wohl in keiner Musikformation dieser Welt anders sein.

Aus ihrem umfangreichen Erfahrungshorizont heraus (und einer damit verbundenen für mich wichtigen Flexibilität) sind professionelle Musiker für ANGIZIA mittlerweile unabdingbar geworden. Die meisten Instrumentalisten finden allerdings erst dann ihre Aufgabe im respektiven ANGIZIA-Projekt, wenn das Grundinstrumentarium (Piano, Bass, Schlagzeug, Gitarren) bereits aufgenommen ist, und die Sänger den dynamischen Weg des musikalischen Konzeptes aufgezeigt haben. Auf Grund der enormen Professionalität der einzelnen Musiker sind Einzelproben nur am Flügel bzw. im speziellen Falle auch mit Schlagzeug, Gitarren und Bass von Nöten. Sämtliche Instrumente werden zwar von Beginn an in das Arrangement der einzelnen Kompositionen eingeplant – aber auf Grund der Tatsache, dass wir genau wissen, was wir von den einzelnen Musikern erwarten dürfen und was sie imstande sind von „Null auf Hundert“ umzusetzen, ist es ein Leichtes, viele Details erst vor Ort (im Studio) zu klären. „Gewöhnliche“ Musiker könnten viele Sequenzen von 39 Jahre für den Leierkastenmann wahrscheinlich auch gar nicht zufriedenstellend ausdrücken. Gleiches gilt für unsere - wie ich meine – sehr charakteristische Gesangsarbeit, weil ich - bezogen auf die rare Auswahl an „Koryphäen“ und vokalen Autoritäten für diese Art der Musik - ohnehin von an sich „einmaligen“ bzw. „nicht zwei mal existierenden“ Gesangscharakteren ausgehen muss. Demzufolge hält sich bei jedem Angizia-Album das Engagement von einerseits professionellen, ja famosen Musikern und andererseits „unersetzbaren“ (charismatischen) Gesangscharakteren die künstlerische Waage. Ganz bestimmt wird ANGIZIA in seinem Konglomerat aus Profi-Musikern und (heute) so selten gewordenen „verrückten Idealisten“ zu dem, was der Konsument unter „Angizia“ versteht. Proben im klassischen Sinne gibt es in ANGIZIA keine.

Zum Entstehungsprozess von 39 Jahre für den Leierkastenmann: Das Feilen an den Songstrukturen selbst zeigte sich (erstmals) sehr aufwendig, da wir das Klavier etwas vernachlässigen wollten und äußerst konsequent die instrumentale Gleichberechtigung des Pianos mit Instrumenten wie Akkordeon, Violine, Bass und Klarinette gesucht haben. Die kompositorische Vorgabe des Stückes verlangte auch viele neue Musiker, die allesamt professioneller Natur waren und mit instrumenteller wie interpretatorischer Perfektion den idealen musikalischen Rahmen für 39 Jahre... ermöglichten.

Die Arbeit an 39 Jahre für den Leierkastenmann nahm in etwa 2 ½ Jahre in Anspruch und setzte schon Anfang 1999 (quasi zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias) mit der so wichtigen Vorarbeit an der Epik des Stückes ein. Mit dem Ziel, ein sehr unkonventionelles Musiktheaterstück zu kreieren, begann ich (nach dem Skizzieren des Stückinhalts) gemeinsam mit Emmerich Haimer die sehr aufwendige Kompositionsphase, die wir etwa 1 ½ Jahre dauern ließen. Das Integrieren der Hörspielsequenzen in die 3 Akte des Stücks behalte
ich als äußerst sensible Arbeit in Erinnerung, das vokale Arrangement des Albums wurde über 1 Jahr hinweg (unmittelbar parallel zur Tondichtung) erarbeitet und dann in der Studiophase zunehmend konkretisiert. Die so beharrliche Auseinandersetzung mit dem Stück im Studio unseres Violinisten Roland Bentz war auch wirklich von Nöten, um ein derart intensives wie intimes ANGIZIA-Werk zu ermöglichen.

Gute Musiker für ANGIZIA zu gewinnen war eigentlich nie problematisch, weil unsere Musik/unsere Alben bzw. auch der Gedanke hinter ANGIZIA selbst für jeden noch so beruflich ambitionierten und vielbeschäftigten Musiker wie Krzysztof Dobrek, Bernhard Seibt oder Roland Bentz eine sehr willkommene künstlerische Abwechslung bedeutet und v. a. auch kommerziell arbeitende Musiker gerne auch schrägen und äußerst unkonventionellen Konzepten und Ideen in anderen musikalischen Milieus frönen wollen. Ich habe zu all diesen Leuten auch eine sehr gute Basis, zumal sie nicht nur musikalisch-virtuos gesehen professionell, sondern auch menschlich wie in der Abwicklung des Kooperationsprozesses an sich professionell sind. Da mit ANGIZIA nach wie vor eher ein umfassender Projektgedanke gemeint ist als weit weniger eine „familiäre und sehr umgängliche Beziehung zwischen allen Bandmusikern“ und sich das gewünschte Instrumentarium eines Albums auch primär am Konzept des selbigen orientiert, sind virtuose Musiker für die musikalische Umsetzung der ANGIZIA-Epik unerlässlich. Für unsere weitere Zukunft wäre es gewiss unvorstellbar, professionelle Musiker, die erwünschte musikalische Temperamente bzw. die Stimmung unsere Stücke 1:1 umsetzen können, durch weniger ambitionierte zu ersetzen; vor allem dann nicht, wenn unsere musikalischen Konzepte auf virtuose Instrumente ausgerichtet ist.

Dass sich renommierte Instrumentalisten aus anderen musikalischen Milieus mit der musikalischen Umsetzung meiner Stücke bzw. mit unseren Kompositionen immerzu aufs Neue äußerst seriös auseinandersetzen wollen, beziffert ja auch den ideellen Wert des ANGIZIA-Kollektivs.

NH: Ihr habt mit Rainer Guggenberger und Mario Nentwich ja 2 Mitglieder der österreichischen Band FREUND HEIN in euren Reihen – wie bist du eigentlich auf die beiden Sickos gestoßen?
MH:
Nun, ganz einfach: Beide passten perfekt ins Kollektiv von 39 Jahr für den Leierkastenmann – Rainer Guggenberger als schräger und offensiver Bassbuffo und Mario Nentwich als genreübergreifender Pianist, der unsere Kompositionen auf einem Flügel umzusetzen hatte. Deren Wirken in FREUND HEIN und FREUND HEIN selbst hatten aber nie etwas mit ANGIZIA zu tun.

NH: Ich habe gelesen, dass es zu 39 Jahre für den Leierkastenmann eine Art Libretto geben soll, das die Texte und nähere Beschreibungen beinhalten soll. Ist es bereits erhältlich, wie sieht es aus? Ist es deiner Ansicht wichtig, es zu besitzen, um die Stücke richtig zu verstehen?
MH:
Das Libretto von 39 Jahre für den Leierkastenmann enthält sowohl die Gesangslyrik des Stücks als auch jeweils informative Einleitungen in die 18 Kapitel des in 3 Akten gegliederten Konzeptes. Darüber hinaus gibt das im Stile von Theaterskripten der 70er-Jahre gehaltene Manuskript Aufschluss darüber, von welchen Sängern die einzelnen Sequenzen der musikalischen Umsetzung bestritten wurden.

NH: Da die Stücke allesamt komplex und doch ausgefüllt sind, und dabei so viele Facetten wie möglich ausgewirbelt werden, drängt sich in mir doch die Frage auf, ob du dich selber als Perfektionist bezeichnen würdest.
MH:
Perfektionist bin ich – JA. Aber Perfektionisten sind auch viele meiner Mitstreiter wie etwa Irene Denner, Jochen Stock, Gabriele Böck oder Roland Bentz. In meinem Falle ist ein bewusster und impliziter Perfektionismus wesentliche Voraussetzung dafür, dass ANGIZIA nicht im Chaos versinkt und von Hunderten unkoordinierten Ideen verschüttet wird. Ich möchte meine künstlerische Idee, mein Ideal von „Wie muss ein optimales musikalisches Ergebnis aussehen?“ perfekt umgesetzt wissen und würde für den Inbegriff meiner künstlerischen Arbeit samt den dafür entwickelten Visionen gleichfalls durch die Hölle gehen.

Ich habe aber kein Problem damit, mich von meinen Idealen besessen zu zeigen, um aber von meiner „Verrücktheit“ gänzlich unbeeindruckt zu bleiben bzw. in ein Projekt Geld zu investieren, das manch anderer „ohne finanzielle Perspektiven“ sofort wieder eingestellt hätte. Wahrscheinlich erklärt das auch von selbst, dass wir uns damit eine enorme künstlerische Freiheit zugestehen, die uns ermöglicht, derlei genre-distanzierte und nonkonformistische Musik zu betreiben.

Grundsätzlich arbeiten in und für ANGIZIA ausschließlich „Musikbesessene“, allerdings erachte ich es als die natürlichste und gewöhnlichste „Sache“ der Welt, immerzu aufs Neue ins Studio zu gehen, um das mit „Perfektion“ umzusetzen wofür man „lebt“ und „leben will“.

NH: Du bist ja bereits dabei, das neues ANGIZIA-Stück Der Requiemlauscher zu schreiben, das eine Fortsetzung der Geschichte auf 39 Jahre für den Leierkastenmann werden soll – wie geht es da voran? Werden wieder die selben Musiker mitwirken? Denkst du vielleicht sogar an einige Veränderungen oder wird das Stück als Fortsetzung ein nahtloser Übergang sein?
MH:
Geplant ist zunächst einmal die Umsetzung einer für ANGIZIA untypischen Fortsetzungsgeschichte von 39 Jahre für den Leierkastenmann, was konkret bedeutet, dass die Handlung des neuen Stücks nach dem physischen Tod von Elias Hohlberg in 39 Jahre... nur mehr metaphysisch und überirdisch umgesetzt werden kann (und will). Dieses verrückte Szenario erlaubt mir/uns eine ganz eigene und jenseitig-originelle musikalische Vertonung gewiss schräger epischer Motive, die wir mit aparter und etwaige auch abnormer Instrumentierung und teils gezielt hörspielorientierten Stimmen zum Ausdruck bringen werden. Dieses „schaurig schöne Friedhofsstück“ wird bestimmt noch mehr "Hörspiel" sein als 39 Jahre für den Leierkastenmann und sich ausschließlich der Szenerie des Königsberger Friedhofes bedienen. Der in ANGIZIA-Werken ohnehin immer wieder gesuchte Dialog mit dem "Tod" wird mit diesem Werk seinen bizarren Höhepunkt finden.

Nach der Veröffentlichung von 39 Jahre für den Leierkastenmann habe ich zunächst einmal das morbide Konzept des nächsten „so sehr schaurig schönen und entrischen Friedhofsstücks“ skizziert und auf losen Zetteln zu Papier gebracht, wollte mir aber über einige Wochen hinweg eine musikalische Auszeit nehmen, um die besonders schwierige Materie dieses „durchwegs kranken Stücks“ auch literarisch optimal vorzubereiten. Es war mir bald klar, dass die Hauptfigur des Elias Hohlberg in diesem Friedhofsstück eine weitgehend „wahnsinnigere“, ja irrsinnigere Rolle finden wird als etwa bei 39 Jahre für den Leierkastenmann. Darüber hinaus wird der „Leierkastenmann“ nun zum „Werkelmann“ mutieren und eine eher atypische protagonistische Umsetzung der Figur erfahren.

Zudem galt es der vorsätzlichen Arbeit an scheinbar kränklichen, verwirrten Szenen zu frönen, die in einem Stück „unter Leichen“ allerdings und wiederum „normal“ sind. Es entsteht in diesem Friedhofsstück eine zwar überaus exzentrische musikalische Atmosphäre, die aber für den Hörer trotz jeglicher Morbidität „realistisch“ klingen muss (und wird). Gerade diese „so drückende Landschaft jenseits des Todes“, die ich mir in ein abnormes, nicht perverses „Reich der Toten“ wünschen wollte, wird dem geneigten Hörer des Stücks als „furchtbar intime“ und schlichtweg „einmalige“ und niemals wieder duplizierbare Auseinandersetzung mit teils auch witzigen Motiven erscheinen. Wir haben schon bei der Vorproduktion der Stücke Schaukelkind und Hoppa Hoppa Reiter (im April 2003) darauf Wert gelegt, dass die einzelnen Figuren („Der Werkelmann“, „Bertram, der Knecht“, „Der Teufel“, „Die Bucklige“ etc.) dem Hörer ungemein „direkt“, „intim“ und in ihrer bizarren Aura nahezu „existent“ gegenüber treten. Genau im Gegensatz zu den kommerziell und populär orientierten Formationen aller möglichen Genres, die es sich selbst zur Priorität machen müssen, ihre Alben möglichst „kantenlos“ und schlichtweg „wieder duplizierbar“ zu gestalten, damit sie die Nummern ihrer CDs auch „live“ ähnlich, sprich „wieder erkennbar“ präsentieren können und die „geschlossene Masse“ eines Konzertsaals all die „Hits“ auch gnadenlos mitbrummen kann, entwickeln wir eine das ganze Stück durchwehende, nahezu „improvisiatorisch“ empfundene und so sehr intime Stimmung, die gerade bei Sprechsequenzen den absoluten Eindruck hinterlässt, als würde das eben Dargebotene dem vor den Boxen seiner Anlage Kauernden unmittelbar und „jetzt“ vor Augen und Ohren geführt werden.

Im Moment stehen wir kurz vor dem ersten Aufnahmeabschnitt in den Studios von Jochen Stock und Roland Bentz. Es gilt dabei einmal 30 Minuten und damit für das Stück fundamentale Musik-, Sprech- und Versatzstücke aufzuzeichnen, die dieses Stück prägen und seinen so sehr eigenartigen Charakter festschreiben, um danach (im Winter 2003/04) alle anderen gedachten Kompositionen, Monologe, Kinderreime etc. in das Stück zu involvieren. Dieses Procedere nimmt freilich direkt Bezug auf das, was ich dir zuvor über meine Absicht, „unmittelbar“ und „augenblicklich“ wirken zu wollen, geschrieben habe.

Wann das Album fertig sein soll, möchte ich nicht genau prognostizieren; wir arbeiten jedenfalls hart daran. Fest steht allerdings, dass das Stück höchstwahrscheinlich nicht Der Requiemlauscher heißen wird – ich habe diesen Titel eher als „Arbeitstitel“ verstanden. Generell betrachte ich das nächste ANGIZIA-Stück als „rhythmisch-strukturiertes Hörspiel mit Versatzstücken aus Sprache, Musik, Geräuschen und akustischer Leerstelle" – ein Stück, das mittels nahezu unfassbar verrückten und wahnwitzigen Stimmen erzählt wird. Dieses entrische Friedhofsstück soll dem geneigten Hörer ein "bizarres Schallspiel" bringen, welches ANGIZIA von einer unwahrscheinlich "intimen" und unikalen (neuen) Seite zeigen wird. Ich spreche dabei gerne von einer "Landschaft jenseits des Todes", die mit Instrumenten wie Klavier, Violine, Cello, Kontrabass, "Singende Säge" oder Akkordeon und mittels ungemein "lebendigen" theatralischen Stimmen zum unmittelbaren Ausdruck gebracht wird. Viele Musiker werden wir im Kollektiv behalten. Gerade aber was die Pianoarbeit betrifft, sind wir immer auf der Suche nach neuen Alternativen – darüber hinaus beanspruchen neue, exzentrische Instrumente immer auch neue, „exzentrische“ Musiker.

NH: Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen eine derartige Melange aus verschiedenartigsten Klängen zu kreieren?
MH:
Angizia bewegt sich eigentlich seit Die Kemenaten scharlachroter Lichter (1997) völlig außerhalb breit getretener musikalischer wie künstlerischer Pfade, was aber weder zwangsweise herbeigeführt wurde noch als Panikreaktion auf die recht platte Musikkultur jener Tage zu verstehen war, sondern aus einem für mich logischen "Prozess" im Umgang mit "Gleichgesinnten" und "verrückten Idealisten" hervor ging. Die Tatsache, dass ich das ANGIZIA-Kollektiv oft genug verändern ließ, begründe ich auch retrospektiv mit doch recht unterschiedlichen Anforderungen schlichtweg verschiedenartiger ANGIZIA-Projekte, die zwar allesamt passionierte Künstler bemühten, jedoch immer auch ein spezielles Musikerprofil beanspruchten. So wäre es der Stimmung von Die Kemenaten scharlachroter Lichter kaum bekommen, hätten wir damals das Cello mit Akkordeon und Tuba kompensiert. Andererseits sind genau jene Instrumente für 39 Jahre für den Leierkastenmann unentbehrlich geworden. Ähnliches gilt für die Wahl der Gesangscharaktere, die bewusst von Album zu Album stückbezogen differierten.

Nun: "Wie kommt man darauf, diese Melange aus verschiedensten Klängen zu betreiben?" Das ist eigentlich eine Frage, die ich gar nicht "einwandfrei" beantworten kann. Nun, ich denke, dass es kein gesondertes Motiv dafür geben muss, das zu tun, was man inbrünstig und idealistisch-trotzig zum unmittelbaren Ausdruck bringt, weil man es entgegen der Auffassung anderer als die "natürlichste" und "selbstverständlichste" Sache der Welt ansieht. ANGIZIA vereint nicht unbedingt beispielhafte Musikstile (à la "Hey, suchen wir uns doch im Musikstilsupermarkt das Beste heraus"), um dadurch für andere repräsentativ zu sein, sondern realisiert viel eher anomale Stimmungen sowie "musikalische" Temperamente mit der dreisten Gleichgültigkeit, der breiten Musikindustrie völlig egal sein zu können. Ich denke, diese "indirekte" Leitlinie macht ANGIZIA auch automatisch zu jenem unbeschwerten und vor allem querköpfigen Kunstgeschöpf, das stets darauf bedacht ist, "spezielle Epik" auf eine "sehr eigene Art und Weise" zu vertonen. Ohne dieser pflichtbewussten "Gleichgültigkeit" der Musikindustrie gegenüber wären unsere Werke nicht zufriedenstellend umzusetzen. Dass wir – wie im aktuellen Falle – schräges Musiktheater mit Klezmer, Klassik, avantgardistischer Zirkusmusik, Kinderliedern, Kinderreimen oder Gattungen wie Rock, Jazz oder Hörspiel verknüpfen, war eigentlich eine von jeglichen Stilfragen und –orientierungen unabhängige Entscheidung bzw. sogar „stilunbewusster“ Natur. Jegliche musikalische Ausdrucksformen, die eine nahezu „omnipräsente theatralische Lebendigkeit“ gewährleisten sind in ANGIZIA immer willkommen.

All das impliziert aber auch, dass ANGIZIA in keinem aller veröffentlichten Fälle "bewusst anders" klingen wollte als andere Bands, Projekte oder Ensembles, zumal ein derart unkonventionelles Schaffen schon von sich aus "einmalig" und "nicht duplizierbar" ist und für seine "Existenz" weder eine gesonderte Rechtfertigung sucht noch braucht. Was ich immer wieder erfahren muss: Viele Vertriebe und Plattenfirmen versuchen uns immerzu in Schubladen zu stecken, in denen wir nie und nimmer Platz finden wollen. Wir sind weder Teil des "Gothic Metal"-Genres noch sind wir eine Metal-Band, weder arbeiten wir für ein allgemeingefälliges künstlerisches Antlitz, noch für die Schublade des "Musiktheaters". ANGIZIA ist KEIN pseudooriginelles Kunstobjekt, KEINE musikalische Fallstudie, KEIN Unterhaltungsapparat für oberflächliche Musikrezipienten. "Die für ANGIZIA einzig und allein ausschlaggebende künstlerische Kategorie heißt "ANGIZIA".

NH: Gibt es deiner Meinung nach die „perfekte Musik“?
MH:
Für mich gibt es das – JA. Darunter verstehe ich aber nicht die Melange aus verschiedenen Bands und Musikstilen, sondern das einer bestimmten Formation zu Grunde liegende Potenzial auf der einen und deren perfektes Ergebnis auf der anderen Seite. Es gibt schlichtweg Bands, Ensembles und Formationen, die in ihrem speziellen Stil und in ihrer ureigenen, so sehr unverwechselbaren Art, Musik zu betreiben ein zugleich virtoses und schier unfassbares Werk abgeliefert haben. Dazu zähle ich sämtliche Devil Doll-Werke, Dobrek Bistround auch Konzeptalben wie ANGIZIAs 39 Jahre für den Leierkastenmann, Dornenreichs Her von welken Nächten oder Meret Beckers Nachtmahr.

39 Jahre für den Leierkastenmann IST ein perfektes ANGIZIA-Album. Dass es aber weder ein Produkt für die Masse, noch auf irgendeine Art und Weise „allgemeingefällig“ ist, scheint logisch. Um den Begriff „Perfektion“ als logisches Ideal professioneller Arbeit mit Angizia in Verbindung zu bringen, sei – subjektiv betrachtet – das folgende gesagt: Wenn ich während eines Studioaufenthaltes bzw. schon davor zum Entschluss kommen müsste, dass wir mit dem aktuellen Stück kein PERFEKTES ANGIZIA-Album ermöglichen, so würde ich das Projekt kurzerhand einstellen. Das Primär-Ziel eines jeden ANGIZIA-Albums heißt: „Musikalische wie künstlerische PERFEKTION!“ Der Konsument aber erfährt das Resultat freilich erst dann, wenn die Ziele des jeweiligen Künstlers bereits erreicht wurden. Die etwaige Diskrepanz zwischen den Zielen des Künstlers und den individuellen Vorstellungen des Rezipienten hat nichts mit mangelnder Perfektion zu tun. Alleine auf Grund der jedem Menschen zustehenden Subjektivität, entstehen immer wieder unterschiedliche Meinungen zu einem einzigen „musikalischen Gegenstand“. Ob ein ganz bestimmtes Album aber „perfekte Musik“ sein soll, kann der Konsument im Gegensatz zum betreffenden Künstler nur schwer beurteilen, weil er die Ziele des Künstlers nicht kennt. Vielleicht sollte man bei vielen Hörerlebnissen auch von einem „so perfekt wie möglich gewordenen“ Album ausgehen. BESSER geht es auf eine bestimmte Art und Weise eigentlich immer bzw. gibt es immer wieder künstlerische Aspekte, die man heute so und morgen anders sieht! Aber ein überaus stark ausgeprägtes perfektionistisches Treiben sollte an und für sich schon „perfekte Musik“ gewährleisten. Ansonsten wäre der Ausdruck „perfekte Musik“ nämlich eher wertlos und unwichtig.

NH: Es ist ja schwer in einem mail-Interview auf Antworten zu reagieren...aber ich nehme einmal an, die Antwort auf die letzte Frage wird nein sein...jedenfalls – falls man es sich zum Ziel setzt, das perfekte Musikstück zu schaffen – müsste man doch als Mensch, der nun einmal ganz und gar nicht perfekt ist – daran zerbrechen oder?
MH:
Der Mensch selbst ist ganz und gar nicht perfekt, das stimmt, aber er ist in der Lage, (für ein Endziel ausgerichtet) perfekt zu denken und dahingehend perfekte Produkte zu entwickeln. Das bedeutet nun nicht, dass ein perfektes Album keine undefinierten und vielleicht weniger interessanten Abschnitte aufweisen darf, sondern erklärt vielmehr, dass gerade diese Passagen ein perfektes Album ausmachen. Schwierig zu verstehen, aber Fakt.

Ich betone auch gerne noch einmal, dass ich der überzeugten Meinung bin, dass seriöse Künstler immer „so perfekt wie überhaupt möglich“ arbeiten, um eben das aus der eigenen Sicht heraus „perfekte Hörerlebnis“ zu ermöglichen. An einem „perfekten Musikstück“ würde ich wohl nur dann zerbrechen, wenn ich für dessen Umsetzung ein quasi unbegrenztes Budget und darüber hinaus noch beliebig greifbare Parameter wie „Chor“, „Orchester“, „Dirigenten“ etc. zur freien künstlerischen Verfügung hätte. „Perfektion“ hin oder her – sie muss einem immanent sein, künstlich erzeugen kann man sie nicht. Ob das für „perfekte Musik“ reicht, mag dahingestellt bleiben – eine Frage, die ich mir selbst nicht stellen werde.

NH: Woher nimmst du die Inspiration für dein Schaffen?
MH:
Tja, schwer zu sagen. Ich bin eigentlich immerzu sicher, dass ich für ANGIZIA das Richtige mache und beziehe meine Inspiration grundsätzlich aus meiner ganzheitlichen Art und Weise zu denken und mit verschiedenen Ausdrucksformen umzugehen. Für mich sind oft ganz eigenartige Dinge - dokumentarische oder dialogische Sendungen, multimediale Ereignisse, soziale oder theatrale Erfahrungen - inspirierender als ein obligatorisch scheinendes Musikstück der heutigen Generation: Ein 3-Sat-Interview mit Elfriede Jelinek, ein von einem interpretationsbesessenen Kind vorgetragenes Herbstgedicht, Filme wie „Scherbentanz“ (mit Jürgen Vogel) oder „Die Klavierspielerin“ (mit Isabelle Huppert), eine surreale Leinwandgeschichte wie etwa „Enfants du Miel“ von Anja Struck, eine von Klaus Kinski wütend gelesene Raskolnikow-Beschimpfungsrede usw.

Meist regen mich eher redundante Dinge des Lebens (die so genannten „Zwischenwelten“) an und damit grundsätzlich Elemente, die für andere aus vielleicht sogar guten Gründen gar nicht wahrgenommen werden (wollen). Zum Beispiel funkeln meine Augen, wenn ich im Sperrmüll meines Nachbarn (neben durchwetzten Wohnzimmermöbeln und allerlei Rost und Kram) ein kleines Hutschpferd sehe oder im schlampigen Kostümverleih (zwischen Zorro, „Batman“ und „Biene Maja“) eine jämmerliche Clownmaske. Klar lese, höre und konsumiere ich viel, aber meine Inspiration ist eine jederzeit unbeschwerte und nicht eine, die sich „auf der Suche nach irgendetwas befindet“. Das wäre nicht meine Vorstellung von „Kunst“, „Kunst leben, erleben und diese für andere erlebbar zu machen“.

Meine Augen und Ohren sind immer weit geöffnet für vieles und gleichzeitig auch für etliche Dinge verschlossen, die mich einfach nicht interessieren. Auf Grund der Tatsache, dass ich jüdisches Liedgut, avantgardistisches Musiktheater (bzw. das was ich darunter verstehe) oder eben exzentrische Zirkusmusik bewundere, sauge ich freilich immer wieder alles auf, was ich damit im Kino, in Filmen, Dokumentationen oder in Büchern (zum Konsum gedacht) vorfinde – ob das aber „nachvollziehbare Inspiration“ ist, möchte ich dahin gestellt lassen. Ich bin außerdem überzeugter Cineast (meist unkommerzieller und unkonventioneller Filme) und besuche nach wie vor viele Konzerte und Theaterbühnen, um meine „eigene Sicht der Dinge“ – dem theatralischen Medium zuliebe - zu forcieren. Somit ist meine permanente Inspiration eine multimediale und multikulturelle, jedoch von mir selbst gesteuerte Quelle, deren besondere Wirkung auf mich selbst mir aber immer bewusst ist. Ich möchte mit ANGIZIA immer etwas Neues machen – Stücke schreiben, die es noch nicht gibt und Wirkungen erzielen, die zuvor noch nicht erzielt wurden.

NH: Woher kommt eigentlich dein Faible für Russland und das Judentum?
MH:
Gut, mein Faible für die russisch-jüdische Musikkultur ist zwar bekannt, der Bezug von 39 Jahre für den Leierkastenmann zum Jiddischen ging aber sehr wesentlich aus dem respektiven Stück hervor, das ich ganz bewusst „in ein jüdisches Milieu zur Weltkriegszeit“ schrieb. Daraus ergab sich auch die so stückverbundene Verwendung von Instrumenten wie Klarinette, Violine oder Akkordeon. 39 Jahre für den Leierkastenmann integriert aber nicht ausschließlich unkonventionell gespiegelte russisch-jüdische Einflüsse sondern auch (sehr wesentlich) elitäre Zirkusmusik sowie Stilelemente aus recht unterschiedlichen musikalischen Bereichen (Musiktheater, Hörspiel, Jazz, Klassik, Rock, Avantgarde, osteuropäische Folklore...). Es ist wahrscheinlich auch nicht richtig, zu sagen, dass wir von diesem oder jenem musikalischen Genre „direkt“ beeinflusst sind – vielmehr liegt mir sehr viel daran, ein Stück, das „projüdisch“ gemeint ist und jüdische Themen beinhaltet, mit adäquaten und ausdrucksstarken musikalischen Elementen zum unmittelbaren Ausdruck zu bringen.

Gerade das Zusammenspiel jüdischer Musiktradition mit musikalischen Zirkuselementen, nonkonformistisch gespiegelten Hörspielsequenzen und dem Musiktheater „als verwegene Aura des Gesamtwerkes“ machen ja ein Stück wie „39 Jahre für den Leierkastenmann“ erst zu dem was es ist: ein bezogen auf die so unkonventionelle Art des Vortrages wahrscheinlich „unvergleichliches“ und „einmaliges“ Werk, das ob der Vielzahl sich verbindender Elemente prinzipiell NICHT zu duplizieren ist, egal ob man nun zur Musik des Stücks einen Zugang finden sollte oder nicht.

Ich konsumiere sehr viele theatralische bzw. eben interpretative Ausdrucksformen, jedoch kaum einmal sprechminimiertes Traditionstheater à la „Mac Beth“ oder „Einen Jux will er sich machen“ weil mir diese konventionellste Form des Theaters (paradoxerweise?) keine wesentliche Bereicherung für meine künstlerische Arbeit darstellt. Für die jüdische Musikkultur (wie übrigens auch für die russische) war ich immer „sehr empfänglich“ – v. a. gibt es in der Musik womöglich kaum einmal bessere Vermittler des melancholischen Temperaments als eben jüdisch-russische Violinisten wie Jascha Heifetz, Izhak Perlmann, Aliosha Biz oder Alexej Igudesman. Die jüdische Musikkultur – von Dutzenden Klezmerbands und wirklich genialen jüdischen Projekten weltweit gepflegt - hat eine große Tradition, auch hier in Österreich (Timna Brauer, Roman Gottwald, Freilech,...). Für mich ist das jüdische Temperament in einem Musikgeschöpf aber umso spannender, wenn es sich in an sich weltliche oder spezielle Musikprojekte einschleicht, sprich die „Bühne eines Musikstücks“ betritt, um als Krönung desselbigen verstanden zu werden. Wenn du in einem an sich französisch-kanadischen Zirkuskunstwerk des Cirque Du Soleil nach bewusst warmen und dichten Musette-Arrangements, einer fast orientalischen Mixtur aus bewusst „schiefen“ Violinen und einem äußerst jazzbedachten Blechblasinstrumentkonglomerat aus Kornett, Tuba und Posaune plötzlich ein perfekt vorgetragenes typisch „jüdisches“ Klarinettensolo hörst, verstehst du was ich meine.

Auch wir haben das „jüdische Element“ in die Struktur von 39 Jahre für den Leierkastenmann eingebettet und nicht thematisch breitgetreten, um aber in vielen Sequenzen aufzuzeigen, dass „dies hier ein projüdisches Stück sein soll“, bei dem nicht nur enthusiastisch auffordernde Stimmen erzählen, sondern gleichfalls auch jüdisch-russisch gesinnte Klarinetten und Violinen. Es wäre unmöglich gewesen, 39 Jahre für den Leierkastenmann ausschließlich mit Klängen einer jüdischen Klezmerband zu erzählen, nur um damit einen „jüdischen“ Musikbezug zur Geschichte rund um den Protagonisten Elias Hohlberg hergestellt zu haben.

39 Jahre für den Leierkastenmann erzählt – zynisch wie ironisch – vom Leid eines jüdischen Musikers zur Weltkriegszeit, um aber - mit Bedacht auf die prinzipielle „Unmöglichkeit“, diese Geschichte zur Zeit des Holocausts zu realisieren - an sich unsterblichen Idealismus bzw. ein Weltverbesserungsstück mit retrospektiven Charakter zum künstlerischen Ausdruck zu bringen. Viele musikalische Sequenzen von 39 Jahre für den Leierkastenmann beziehen sich auf das jüdische Temperament dieser Geschichte, andere wiederum hatten die Aufgabe, die Geschichte zu erzählen, sie vielseitig bzw. aus mehreren Blickwinkeln heraus zu schildern. Dann wieder brauchten wir musikalische Abschnitte, die dem Hörer die Fiktion der Zirkusstadt und ein komisch-tragisches Humoristenleben auditiv näher bringen sollten. Aus all diesen Elementen entstand schlussendlich ein 18 Kapitel umfassendes, dreiaktiges Musiktheaterstück, das zwar (nach dem Motto „Von Musiker – für Musiker“) speziell jüdischen Tonkünstlern und Straßenmusikanten bzw. dem geselligen Idealismus an sich gewidmet war, aber von Musik- und Hörbesessenen aus aller Welt konsumiert werden sollte.

Zum RUSSLAND-Bezug möchte ich sagen: Nachdem ich vor Jahren entschieden habe, ANGIZIA-Alben an eigens kreierten Geschichten zu orientieren, um diese mit adäquater Musik zum Ausdruck zu bringen war auch klar, dass ich mich hier eher Szenerien bzw. einem Rahmen bedienen werde, der mich MEHR als WENIGER fasziniert. Die russische Geschichte - beruhend auf all ihren Fakten und Zahlen – egal ob nun vor oder nach der Oktoberrevolution - interessiert mich selbst eigentlich genauso wenig wie „Chroniken“ und epochale Ereignisse an sich, weil ich niemals mit historischen Büchern groß werden wollte. Die Art der Berichterstattung („1711 eroberten die...die Stadt etc.“) hat mich nie derlei gepackt, dass ich - vom Lesen ergriffen - begann, Geschichtsbücher zu sammeln. Diese Tatsache steht allerdings in keinem denkbaren Widerspruch zu ANGIZIAs chronologisch aufgebauten Werken, zumal diese ja nicht auf tatsächlich passierten Dingen beruhen und prinzipiell „eine fingierte Handlung“ in die „Geschichte der jeweiligen Zeit“ interpretieren. Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias und 39 Jahre für den Leierkastenmann sind und waren solche Geschichten, die „Schritt für Schritt“ und primär der Reihe nach erzählt wurden, um aber freilich nicht zu vergessen, was uns die Zeitgeschichte in den Jahren 1900 bis 1940 vorgelegt hat. Bei 39 Jahre für den Leierkastenmann beispielsweise sollte ein Stück präsentiert werden, das - auf Fakten beruhend (und die Judenhetze war ein Fakt) - satirisch, persiflierend und auf Grund einer ganz bestimmten Art und Weise, eine Geschichte im Kriegsmilieu zu erzählen, idealistisch-weltverbessernd wirkt. Diese Wirkung konnte ich aber nur erzeugen, indem ich die Fakten der Weltkriegsgeschichte als chronologischen Rahmen in epische Erinnerung rief. Dabei ging es aber nicht um einzelne Jahreszahlen, sondern lediglich um einen grob abgesteckten Zeitrahmen, der eine satirische Auseinandersetzung mit der fingierten Geschichten rund um 4 jüdische Musikanten im so leidlichen Weltkriegsdilemma zuließ.

„Russland“ und alles was ich selbst damit in Verbindung bringen wollte, hat mich immer fasziniert. Die russische Kultur ist eine unverwechselbare; sie ist einmalig, unveränderbar und tiefgehend (wenn man das möchte). Ich habe über lange Zeit Bildmaterial russischer Menschen, und dabei hauptsächlich Gesichter gesammelt und daraufhin ein besonderes Faible dafür entwickelt, das „Russische“, den „Russen“ und „russische Kultur“ (wie EIN russisches Gesicht aus 100 Gesichtern) überall herauszufiltern und wieder zu erkennen: Den russischen Pianisten in der kolossalen Empfangshalle eines tunesischen Hotels, einen Weißrussen auf der Tower Bridge beim lässigen Spazierengehen, die fast frappanten Russischstudenten der Wiener Hauptuni beim täglichen Bibliotheksbesuch, sämtliche Aufschriften vermeintlich russischer Autoren in einer nach Buchtitel sortierten Bibliothekskartei, russische Stummfilme (ohne Untertitel), die russischen Akrobaten im Cirque du Soleil bei der Premieredarbietung im Wiener Prater oder eben russische Violinisten auf Grund ihrer so charakteristischen Spielweise. Die russische Literatur um Gorki, Dostojewski, Tolstoi, Pasternak (und mögen es an sich kitschige Verfilmungen wie „Doktor Schiwago“ sein) habe ich immer gelobt. In der Literatur gibt es eben bestimmte Dinge, die ein Russe anders sagt, als z.B.: ein Chilene oder Portugiese. Der russische Literat lässt sich fast als „angenehm kühl, bewusst sozial und versteckt philosophisch“ pauschalisieren.

Nach Die Kemenaten scharlachroter Lichter, was an sich eine bewusst deutsche Geschichte im Barock-Genre war, entschied ich, eine Russlandtrilogie - unter dem Fingerzeig „Schaut, wir schildern bewegende Geschichten armer russischer Leute“ – zu beginnen. ANGIZIA ist bzw. war aber deswegen keine primär von russischer Klassik oder Literatur beeinflusste Formation, weil wir prinzipiell mit keinem Album typisch „russisch“ klangen. Weder wollten noch taten wir das. Im Zusammenhang mit meinem Faible für „Russland“ erwähne ich aber noch meine Vorliebe für russische Komponisten wie Tschaikowski, Rachmaninow oder Schostakowitsch. Außerdem lag mir seit jeher sehr viel an literatur- wie sprachwissenschaftlichen Aspekten der russischen Sprache.

Kurzum: Mit 39 Jahre für den Leierkastenmann haben wir die 1997 mit Das Tagebuch der Hanna Anikin begonnene Russlandtrilogie (die Trilogie stützt sich dabei ja einzig und allein auf den geografischen und im Einzelfall von 39 Jahre... eben geschichtlichen Rahmen unserer Werke) beendet. Möglich, dass ich künftig - bei späteren Stücken - wieder auf eine Russland verwandte Thematik zurückkomme. „Russland“ selbst wird dank der von mir genannten (und weiteren) Aspekten nach wie vor vielen Filmen, Themen, Stücken und Romanen als „Stimmungsgrundlage“ dienen – das wage ich zu behaupten. Das Schöne an der Kunst bleibt ja, dass sie die „Andersartigkeit“ bzw. den „unterschiedlichen Umgang mit an sich starren Themen“ (die russische Kultur bleibt ja die selbe, egal wer sich damit beschäftigt) toleriert. Was mir für mein Leben lang auf Grund des für MICH sicht- und erkennbaren russischen Temperaments „unzugänglich“ und „unmöglich“ scheint: Eine russische Liebesgeschichte im Weltkinoformat.

Die ANGIZIA-Trilogie „Arme Leute“ – bestehend aus Das Tagebuch der Hanna Anikin, Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias und 39 Jahre für den Leierkastenmann – befasst(e) sich grundsätzlich mit dem „seelisch verarmten“ Menschen in politisch schwieriger Zeit. Im Zuge meines Faibles für russische wie jüdische Kultur entschied ich, RUSSLAND als globalen Ort des Geschehens zu wählen. Soviel zum Konnex ANGIZIAS mit der russischen und jüdischen Kultur.

NH: Welche sind eigentlich deine musikalischen Einflüsse?
MH:
Ich bin einerseits ein überaus kritischer Musikkonsument und sauge auf der anderen Seite an sich alles auf, was mich fasziniert und tiefgehend bewegt. Spezielle Einflüsse in ANGIZIA kann ich aber schwer dingfest machen, weil ich famose Beiträge immer ganzheitlich sehe oder oft nur unvorbereitet oder eben spontan (während eines Filmes, im ARTE-Kulturprogramm etc...) aufnehme. Ich fand aber (um ein Beispiel zu nennen) den Hans Zimmer-Soundtrack für THE RING (der übrigens nicht auf CD erschienen ist) über alles erhaben und habe bei der Konsumtion des Films womöglich jede Cello-, Piano- und Kontrabasssequenz bis zum Anschlag und Anstrich hin verzehrt (als wären sie meine eigenen). Den Film an sich (übrigens einer der besten der letzten 10 Jahre) und seine „Stimmung“ empfand ich als eine congeniale Verbeugung vor Mr. Doctor und der Devil Doll-Kultur. Selten bzw. noch nie hat mich ein an sich beiläufig und unterstützend gedachter Kompositionskomplex derlei begeistert. Ähnlich erging es mir 9 Jahre zuvor, beim Rezipieren des „SCHINDLERS LISTE“-Soundtracks samt Virtuosentum Giora Feidmans (Klarinette) und Izhak Perlmanns (Violine). Die für mich vollkommensten und mich auch am meisten bewegendsten musikalischen Werke überhaupt stammen von Devil Doll, Meret Becker und Dobrek Bistro. Zu meinen musikalischen Vorlieben zähle ich außerdem Kurt Weill, Hanns Eisler, Frederic Chopin, Cirque Du Soleil, Arcturus, Fantomas sowie generell die jüdische Klezmer-Kultur und sprecherminimierte Aufnahmen von Klaus Kinski, Andre Eisermann, Otto Sander und Ben bzw. Meret Becker. Außerdem habe ich ein besonderes Faible für außergewöhnliche Stimmen: Emiliana Torrini, Björk, Mike Patton, Meret Becker, Nina Hagen, Klaus Kinski, Garm, Mr. Doctor (Devil Doll), Otto Sander...

Ganze Bands, Alben, Musiktheaterstücke oder Soundtracks haben ANGIZIA sicherlich NICHT beeinflusst. Eigentlich bringe ich/bringen wir mit meinen/unseren Stücken ja nur zum Ausdruck, was mir und uns IMMANENT ist. Was in mir wohnt, drücke ich auch aus.

NH: Was genau ist eigentlich mit Napalm Records passiert? Ich habe vernommen, sie wollten euch auch in ihr Klischeebild einrücken und als ihr euch geweigert habt, haben sie den Vertrag gekündigt – was davon ist wahr? Habt ihr mittlerweile schon ein neues Label im Visier, oder wird/wurde alles selber finanziert?
MH:
Gut, man braucht sich da nichts vormachen. Rein prinzipiell haben wir nie sehr gut zu dem gepasst, was Napalm vertreten hat bzw. konvenierten unsere „Eigenheiten“ nie wirklich zum Profil des Labels. Wir hätten uns (bezogen auf die grafische und musikalische Gestaltung unserer Alben) auch niemals dem trendgebundenen Wunsch irgendeiner Plattenfirma unterworfen, nur damit in Folge dessen mehr CDs verkauft werden. Den so dramatischen „Schmiss“ vom Label gab es nicht. Wir haben keinen weiteren Vertrag unterschrieben und Napalm hat uns keinen vorgelegt. Im Zusammenhang mit Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias fand ich den Titel des Napalm-Ablegers und Sublabels „Black Rose Productions“ einfach besser als den Namen „Napalm/Records“, der uns ja schon des öfteren (v. a. jetzt im Zusammenhang mit 39 Jahre für den Leierkastenmann in heikle Situation brachte („Was hat das Wort Napalm denn mit Juden zu tun? Oder besser: Was hat dieses Wort denn mit Juden NICHT zu tun?“). „NAPALM“ klingt nun einmal nach „Zerstörung“, ANGIZIA aber will nichts zerstören, sondern innovative Musik betreiben. Sowohl Angizia als auch Napalm bewegen sich immerhin in zwei absolut konträren Welten, obgleich ich Napalm/Records seit jeher als hochprofessionelle Plattenfirma verstanden habe. (Besonders würdigen möchte ich in diesem Zusammenhang die Arbeit von Karl Kern – sein Einsatz für das Label und vor allem für eigenständige, NICHT austauschbare bzw. unkonventionelle österreichische Musik des vorigen Jahrzehnts wie eben von Korova und ANGIZIA war enorm. Gerade Musikschaffende wie Christof Niederwieser und ich wissen das auch heute noch sehr zu schätzen.)

Zum Leidwesen der Musikindustrie: Wahrscheinlich kooperiert meine und unsere Vorstellung von Musik generell nicht mit musikwirtschaftlichen Überlegungen. Zu sehen, dass manch vorsätzlich gesignter und x-beliebiger bzw. jeder Zeit wieder „austauschbarer“ Einheitsbrei dem musikalischen Anspruch vieler Plattenfirmen besser zu Gesicht steht als originell-avantgardistische und in Folge dessen auch „eigenständige“ Formationen wie eben ANGIZIA oder Devil Doll habe ich sowieso nie verstanden bzw. bin ich eben der logischen und überzeugten Meinung, dass das „Was verkauft sich wie und wodurch am besten?“-Denken kohlegeiler Labels die Qualität des Undergrounds zerstört (hat). Dieses Marketing-Konzept bewirkt nämlich auf Dauer eine Vereinheitlichung der am Markt existenten Bands und ließe sich bei zunehmender Uniformierung auf einen erbärmlichen Zustand reduzieren, der nur mehr die Kopie von der Kopie von der Kopie am Markt lässt. Als „nicht-duplizierbares“ Original bzw. als Verfechter origineller und trotzig-eigenständiger Musik werde ich diesen Zustand so lange bekämpfen, wie ich der Meinung bin, dass dieses Genre (noch) nicht vollkommen verblödet ist. Ach so bemühte Plattenfirmen um geldbringende Formationen vergessen nämlich, dass wir uns mit dem Reduzieren auf einige wenige Bandprofile einem Status nähern, der uns in der Literatur vor einigen Jahren die Trivialliteratur und wahrscheinlich auch die gesteigerte Analphabetenrate beschert hat. Damals waren sich alle einig, dass mit jedem „Bastei“-Heftchen die Verblödung der Leserezipienten zunimmt. Wenn Musik aber immer soweit vereinfacht und standardisiert wird, dass diese Simplifizierung nur mehr der schnelllebigen Zeit von heute Tribut zollen kann, so stellt sich doch die entscheidende Frage, warum man sich zwar den Leseluxus eines Kafka-Textes oder eben ein teures Gläschen Rotwein leisten will, sich aber im selben Zuge „auditiv“ nicht mehr zutraut, als jene banal designte Schmalspurmusik kaum qualitativ denkender Plattenfirmen. Notgedrungen und aus diesen Gesichtspunkten heraus war das eigene Label „Medium Theater“ für ANGIZIA die beste Wahl überhaupt. Ich bereue nichts.

Ob sich die überaus zufriedenstellende Zusammenarbeit mit PROPHECY PRODUCTIONS im Zuge des Vertriebs von 39 Jahre für den Leierkastenmann bei unserem nächsten Album intensivieren wird, kann ich noch nicht genau sagen. Mehr dazu im Herbst 2003.

NH: Könntest du dir vorstellen, dass einmal eines eurer visuell gestalteten Stücke auch auf einer Theaterbühne von Schauspielern vorgeführt wird? Welche Aspekte müssten dabei unbedingt erfüllt werden?
MH:
Nun, es müssten dabei eigentlich ALLE Aspekte erfüllt werden. Es geht nämlich wirklich nicht immer und ausschließlich darum, interessante Ausdrucksformen um jeden Preis (und damit gleichzeitig um jede Qualität) für sich zu gewinnen. Eine ähnliche Problematik bedeutet die Umsetzung der ANGIZIA-Kultur auf Konzertbühnen. Es gab dabei zumindest die Idee, ein Konzert im minimalistischen Hörspielrahmen vorzubereiten, um schlichtweg Perfektion zu garantieren. Pompöse Konzerte gemäß den Höreindrücken unserer Alben würden wohl überaus teuren Ton- und Lichttechnikern sowie fast unbezahlbaren Proben im „Ensemble“-Gewand zum Opfer fallen. Darüber hinaus habe ich selbst nie daran gedacht, ANGIZIA-Stücke von irgendwelchen Schauspielern umsetzen zu lassen. Es gäbe freilich hochinteressante Bühnengrößen, Sprecher und Schauspieler, die diesem Vorhaben sehr viel geben würden, ANGIZIA verstehe ich aber nach wie vor als ein Gesamtkunstwerk, das sich aus heiklen Parametern wie Epik, Musik und Malerei zusammensetzt und wahrscheinlich auch nur von ganz bestimmten und nur wenigen Künstlern optimal umsetzen lässt. Gerade unser derzeit in Arbeit befindliches „Friedhofsstück“ mit all seinen schaurig-schrägen Geschichten und zarten bis klirrenden Klängen wäre wohl nur von ANGIZIA selbst auf die Bühne zu bringen (um damit die so unkonventionelle und für uns typische ANGIZIA-Kultur aufrecht zu erhalten) und würde als Monodrama oder klassischer Einakter im Volkstheater wohl kaum zu seiner Geltung kommen, auch wenn sich durch die Darstellung renommierter Akteure ein größeres Publikum finden ließe. ANGIZIA muss in jeder denkbaren Ausweitung auf eine andere Ausdrucksform (Theater, Film...) ANGIZIA bleiben. Alles andere wäre eine Farce.

NH: Plant ihr überhaupt, eure Stücke einmal live darzubringen? Oder ist das aufgrund der zahlreichen Instrumente und Künstler nicht möglich? Welche Voraussetzungen müßten erfüllt sein, damit ihr die Bühne betretet? Mit welchen anderen Bands würdet ihr dann eventuell gerne auftreten? In welcher Location bzw. vor welchem Publikum würdest du am liebsten spielen?
MH:
ANGIZIA auf die Bühne zu bringen ist eine bestimmt aufwendige und auch sehr kostspielige Angelegenheit, obgleich wir Derartiges im Idealfall auch in Erwägung ziehen würden. Grundsätzlich denke ich dabei aber eher an Konzerte im schlichten, doch anmutigen Hörspielrahmen (mit einer von der CD abweichenden Instrumentierung) und nicht an pompöse und schwülstige Auftritte in barocken Kostümen (sprich: Verkleidungen) und süßem Kerzenschein. Angizia existiert seit dem Jahre 1995 als reger Projektgedanke, der immerzu scharenweise Musiker und Sänger in das jeweilige Stück einbindet. Die Tatsache, dass etliche ANGIZIA-Künstler auch sehr viel beruflich musizieren, stellt uns zudem immer wieder vor terminliche Probleme. Ferner ist der Umstand, dass nahezu 100% unserer Musiker beruflich an ihr Instrument gebunden sind, immer auch mit Kosten verbunden, was gerade dem „so abenteuerlichen“ Underground ein schrecklicher Dorn im Auge ist. Ich schließe ANGIZIA-Konzerte gewiss nicht aus, möchte diese aber auch nicht definitiv versprechen, auch wenn ich sagen muss, dass ein ANGIZIA-Abend dem interessierten Veranstalter doch die eine oder andere Münze wert sein sollte. Unkompliziert wären diese Konzerte jedenfalls nicht.

Meist bin ich selbst immer zu sehr an neuen Projekten beschäftigt, um die grundsätzlich interessante Idee einer konzertanten Darbietung ANGIZIAS weiter oder gar zu Ende zu denken. Könnte ich mir ANGIZIAs Mitstreiter für einen Konzertabend aussuchen, so wären das wohl Devil Doll und Meret Becker. Es gibt gewiss Dutzende Locations (Theatersäle, Spiegelzelte etc.), die für ANGIZIA-Konzerte geeignet wären. Wie jeder Vertreter der „ernsten Musik“ würde ich gerne vor einem bestuhlten und bewusst tiefsinnigen Publikum spielen.

NH: Was hältst du eigentlich von der Metal-Szene?
MH:
Ehrlich gesagt gar nichts. Ich finde einige Outputs weniger wirklich famoser und progressiver Bands (Dornenreich, Fantomas, Arcturus...) ganz gut, die „Szene des METALS“ an sich interpretiere ich aber nach wie vor oder gerade jetzt eher verwerflich und gehaltlos. ANGIZIA hat in dieser „Szene“ nie einen Platz gesucht. Ich weiß aber, dass immer wieder aktive Metal-Rezipienten ein großes Herz für unsere Musik zeigen. Das freut mich ungemein, ändert aber prinzipiell nichts an meiner Meinung über die aktuelle „Metal-Szene“. Heute prostituiert sich der Metal zweifelsohne als kapitalgeiler und ideenloser „Copyshop“ elitärer Metalformationen und reduziert den „Metaller“ mehr und mehr quasi selbstsprechend auf ein plumpes und einfältiges musikalisches Erscheinungsbild. Ich liebe progressive und avantgardistische Ausdrucksformen, der METAL und der tiefe Kern der „Metal-Szene“ mit all seinen Allüren und Ergüssen hingegen erscheint mir klotzig, teilweise rückschrittlich oder eben bestenfalls stagniert.

NH: Wenn du mal nicht gerade an einem neuen Angizia-Stück werkelst...für welche Kunstarten interessierst du dich sonst noch?
MH:
Als begeisterter Cineast fröne ich vor allem der „Kunstform“ Film, aber niemals dem Action- und Kommerzfilm-Format. Darüber hinaus habe ich ein Faible für Exzentrik, (Zirkus-, Musik-...) Avantgarde, Theater und Biografien. Im Zusammenhang mit Literatur und Wissenschaft beschäftige ich mich vorwiegend mit Werken von Peter Handke, Elfriede Jelinek, Frank Kafka, Elias Canetti , Bert Brecht, Klaus Kinski und Neil Postman. Ferner hege ich großes Interesse am epischen Theater, am Musiktheater und an der jüdischen wie auch russischen Musikkultur (Klezmer,...) und bereise als „Quasi-Kosmopolit“ immer wieder „kunstspendende“ europäische Metropolen. Abseits von Musik und Literatur liegt mir sehr viel an Geisteswissenschaften wie Pädagogik, Soziologie, Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft, Medienwissenschaft und Politologie.

NH: Eure Alben werden von Gemälden der Künstlerin Gabriele Böck verfeinert. Wie wird dabei vorgegangen – malt sie die Bilder, inspiriert von eurer Musik oder gebt ihr Vorlagen vor? Wie wichtig ist es für dich, dass der Gesamteindruck auch bildlich umgesetzt wird? Da ich gelesen habe, dass die Gemälde unverkäuflich sind – wo befinden sie sich?
MH:
Ein Stück wie 39 Jahre für den Leierkastenmann lebt weder von geldbringender Plakativität noch von der Hochstilisierung eines vorgetäuschten Konzeptes, sondern ist vielmehr ein gründlich überlegtes und dramatisch ausgefeiltes Gesamtwerk, das sich aus den Komponenten "Epik", "Musik" und "Malerei" zusammensetzt. Eines dieser Elemente auszublenden würde bedeuten, dass das künstlerische Netzwerk „Angizia“ als Gesamtwerk geschwächt oder unvollendet ist.

Man darf sich den "künstlerischen Prozess" bei ANGIZIA so vorstellen: Noch bevor ein Ton mit einem anderen in Verbindung gebracht wird, existiert einmal der grob skizzierte Handlungsbogen einer Geschichte, der kurze Zeit später musikalisch-schöpferisch und musisch-feinsinnig zum Ausdruck gebracht wird. Diese vorab notierte Geschichte zeigt sich zunächst "skizziert" in Dokumenten auf meiner Festplatte, in meinem Kopf oder vor sich hin gekritzelt auf vielen losen Blättern (in einer wie ich meine für andere nicht wirklich leserlichen Schrift). Die Epik in ANGIZIA ist daher programmatisch, weil sie vorsätzlich ist, und KEINE plakative Begleiterscheinung, um der Musik nachträglich ein lyrisches Bild zu geben. Sie allein gibt unserer Musik und darüber hinaus der visuellen Kunst überhaupt Anlass zu existieren. Sie legitimiert die ANGIZIA-Alben als Konzeptwerke und motiviert eine "visuell"-anschauliche Vertonung der Geschichte.

In einer zweiten Phase entstehen zunächst musikalische Fragmente zu der chronologisch bereits vorgefassten Geschichte. Mit dem Ausformulieren der dramatischen Form (in unterschiedlichen Bereichen der Essayistik) wird schließlich auch die Tondichtung konkretisiert. Sie verschmilzt mit dem Stück und mit ihr die malerische Interpretation der Geschichte, die in einer dritten Phase - analog zur Feinarbeit an den Komponenten "Epik", "Lyrik" und "Musik" - zum illustrativen Rahmen der Epik bzw. des Stückes wird. Die einzelnen Bilder entstehen dabei auf recht unterschiedliche Art und Weise. Einerseits gebe ich gewünschte Motive und Themen vor, die Gabriele Böck dann umsetzt. Andererseits interpretiert sie auch immer wieder eigene Gedanken und Eindrücke, die sie beim Lesen meiner Epik/meiner Lyrik oder auch beim Anhören des jeweiligen Stücks für sich gewinnt. Viele Bilder enstehen auch als Resultat der „Ideen-Achse“ Michael Haas/Gabriele Böck/Irene Denner“ oder aus dem kreativen Gespann „Irene Denner/Gabriele Böck“.

Schlussendlich lebt die so richtunggebende Epik a)sowohl als isolierte essayistische Form (als Stück, als Novelle,...), b)als musikalisch-schöpferische Vertonung und c)als bildlich veranschaulichte Geschichte (zur Vergegenwärtigung der stückbezogenen Figuren und Motive). Es ist auch ein (in der Tat) psychologisches Faktum, dass ein Kunst- oder Gesamtwerk umso intensiver wirkt, je mehr künstlerische Ebenen dafür in Anspruch genommen werden. Die Frage nach dem Ausblenden EINER dieser drei künstlerischen Bereiche in ANGIZIA stellt sich bewusst nicht.

Sämtliche Bilder, die Gabriele Böck für ANGIZIA gefertigt hat, sind IHR Eigentum und (wie du schon richtig bemerkt hast) unverkäuflich. Allerdings besteht die Möglichkeit, die Motive von Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias und 39 Jahre für den Leierkastenmann in Form von „Kunstdrucken“ in unterschiedlichen Formaten direkt über ANGIZIA zu erwerben.

NH: Da es bei euch anscheinend höchste Priorität hat, ein Gesamtkunstwerk zu präsentieren, würde mich interessieren, was ihr zum neuesten „Trend“ sagt, Musik aus dem Internet herunterzuladen, um sie womöglich nachher auch noch auf CD zu brennen. Ist dies die Zerstörung der Kunst und der Musikszene, oder siehst du es eher als Horizonterweiterung an?
MH:
ANGIZIA-MP3s sind ohnehin rar und – in irgendeiner Form aus dem Internet gezogen – nur mehr Abbild der Wirklichkeit und damit prinzipiell wertlose Raubkopien, die mit dem eigentlichen Zauber ANGIZIAs und einem plausiblen „Gesamtkunstwerk“ nichts mehr zu tun haben bzw. eher dafür gedacht sein sollten, „auf das gesamte Album aufmerksam zu machen“. Nicht mehr und nicht weniger. Ich selbst habe das Internet immer nur zur künstlerischen „Horizonterweiterung“ genützt und jede mir wertvolle CD mit gerne ausgelegtem Geld gekauft. Andererseits weiß ich, dass etwa in Ländern wie Panama, Mexico, Brasilien, Israel, Jordanien oder Bolivien Angizia-Sympathisanten aus sozialen und finanziellen Gründen nur per AUDIO GALAXY Zugang zu unserer Musik finden können, andererseits aber auch etwa Vertriebe in südamerikanischen Gefilden wirtschaftlich äußerst unzuverlässig sind, sodass weder wir noch PROPHECY PRODUCTIONS in irgendeiner Form mit diesen kooperieren können. Es gibt immer wieder Fetischisten, die sich um ihren Wochenlohn eine Digipack-CD über unseren Mailorder bestellen, andererseits bleiben aber für viele vor allem mittellose ANGIZIA-Enthusiasten auch nur Downloads als einzig denkbare auditive Alternative zum sonst verfügbaren „Gesamtkunstwerk“ (bestehend aus Epik, Musik und Malerei). Dass heute Kollegen wie z.B.: Oswald Henke von Goethes Erben den wirtschaftlich so sehr unangenehmen Beigeschmack der MP3-Kultur bejammern, kann ich voll und ganz nachvollziehen, auch wenn Bands wie ANGIZIA oder eben Goethes Erben noch eher mit der „Verpackung“ der eigenen Werke (Digipack, limited edition...) in Verbindung gebracht werden wollen als andere CD-Veröffentlicher. Und ehrlich gesagt: „Was hat man denn mit einer voll bepackten MP3-CD schon in der Hand? MP3-s, mehr nicht. Lieber mühsam ersparte Originale genießen, als eine von Shit und Kram überzogene Plagiatsammlung ohne Aura, auf Hunderten CDs abgelegt und nichtssagend festgehalten. Wer originelle Musik liebt, muss diese schon unterstützen, um zu verhindern, dass einige Bands künftig von der Musikoberfläche verschwinden (und daher auch im MP3-Format nicht mehr erhältlich sind).

NH: Gibt es noch irgendetwas, das dir auf der Zunge brennt und daß du gerne loswerden möchtest?
MH:
Das fünfte ANGIZIA-Album ist bereits in Arbeit und erscheint voraussichtlich im nächsten Jahr. Danke für das interessante Interview und entschuldige meine eher „langfristige“ Auseinandersetzung.

 

07/2003 © Martin "Mephisto" Grünberger & Dunja Edelman • Angizia